Wir wollten Natur erleben. Als ich und ein Freund 1981/82 zum Zelten nach Skandinavien fuhren galten wir als echte Exoten. Es lag überhaupt nicht im Trend dorthin zu fahren, wo das Wetter selbst im Sommer unbeständig und oft kalt war. Unsere Freunde verbrachten ihre Urlaube lieber mit Party machen auf Mallorca, an der Adria oder der Costa Brava.
In der Stadt, in der ich damals wohnte, gab es nur eine kleine Ecke mit Campingartikeln im Keller eines großen Karstadt-Kaufhauses und ein kleines, individuelles Sportgeschäft. Die Ausrüstung für unsere Reisen nach Schweden und Norwegen ließ sich nicht so einfach zusammenstellen. Vieles musste improvisiert werden und uns blieb nichts anderes als kreativ zu werden. Camping sah damals anders aus und fand auf Zeltplätzen statt. Wenige gingen direkt in die Natur und die Ausrüstung war oft schwer, unhandlich und irgendwann wasserdurchlässig. Was hätten wir damals gegeben, uns bei einen Outdoor-Ausrüster ausstatten zu können! Allein das Wort eines solchen Geschäftes war im allgemeinen Sprachgebrauch fremd.
Wo bekam man einen verlässlichen und bezahlbaren Spirituskocher her? Über Familienangehörige ließen wir uns einen aus der DDR schicken, da er im Westen schwierig zu bekommen war. Die nächste Herausforderung: Wie nimmt man Spiritus mit? Webcam, Regenradar, Googlemaps gab es nicht. Karten mussten wir im lokalen Buchhandel bestellen und wir warteten drei Wochen, bis sie ankamen. Um unser Zelt zu testen gingen wir in die Felder am Stadtrand um bei einer Probe-Übernachtung herauszufinden, was noch fehlte oder was repariert werden musste. Regen war meist irgendwann ein Drama, alles wurde nass. Schlechtes Wetter gab es damals so zusagen noch. Was Vernünftiges zum Anziehen, abgesehen von einem unhandlichen und schweren Friesennerz und einem selbstgestrickten Norweger-Pullover von meiner Mutter, hatte ich nichts, das mich vor dem Wetter schützte und gab es auch nicht in der Nähe zu kaufen. Meine erste Fjäll Räven Jacke ließ ich mir von daher aus Schweden schicken. Die Bestellung hatte ich auf Englisch per Post mit einem Check zu einem Laden geschickt, den die schwedischen Brieffreunde meiner Eltern vermittelt hatten. Das Packet mit meiner Jacke musste ich dann irgendwann am Bahnhof beim Zoll auslösen.
Ich hatte ein blaues Herkules Fahrrad mit Dreigangschaltung auf dem alles festgeschnallt wurde und mit dem ich mich fortbewegte. Essen war damals Luxus in Schweden, alles war teuer. Es gab meist »Sild« (den klassischen Heringssalat) mit Kartoffeln und kleinen, schrumpeligen, frischen Gurken. Alles wurde nacheinander gekocht und gegessen, da wir nur zwei Töpfe hatten. Ein ganzes warmes Gericht ließ sich nicht zubereiten. Mannagryn (Griesbrei) gab es auch oft, oder Filmjölk (eine Art Dickmilch). Es war trotzdem lustig. Wir hatten unseren Spaß und erlebten unvergessliche Momente.
Schweden war damals ein vergleichsweise armes, bäuerlich geprägtes Land mit atemberaubender Landschaft und kaum Tourismus. Was hat uns getrieben? Ich weiß es nicht, aber irgendwie war es die faszinierende Natur. Wir waren total glücklich und stolz, dass wir es geschafft haben, dass wir es überhaupt gemacht haben. Die Eindrücke prägen mich bis heute. Leider war dies für viele unverständlich. Oft wurden wir nur merkwürdig von der Seite angeschaut, wenn wir unsere Geschichten erzählten. Für Bekannte wurden unsere Reisen anschaulicher und nachvollziehbar als Rüdiger Nehberg Bücher über seine extremen Reisen schrieb und Tipps zum Überleben in der Wildnis veröffentlichte. Ein großes Vorbild für uns!
Im folgenden Jahr ging es wieder gen Norden, dann mit Interrail. Als ich 1987 meine Frau kennenlernte lagen die intensivsten Reisen schon hinter mir. Ich musste ihr die traumhafte Natur zeigen. Da hatten wir allerdings schon einen VW Bus mit Klappdach – was für ein Luxus. In der Nähe von Narvik kaufte ich mir 1982 ein Finnmesser mit einer Gravur auf der Klinge und einer Ledertasche, die man am Gürtel befestigen kann. Dieses Messer begleitet mich bis heute auf Wanderungen und Reisen. Meine Tochter wird dieses erben und damit hoffentlich auch für ihre Kinder Äpfel kleinschneiden und Wanderstöcke schnitzen.