Von Äkäslompolo in Finnisch Lappland nach Wewelsfleth in Norddeutschland – Zu Fuß mit Pferd und Hund
Den Anfang dieser Reise, meiner Geschichte, kann ich nicht klar definieren. Sie begann sicherlich mit einem flüchtigen Gedanken. Zu der Zeit arbeitete ich weit oben im Norden Finnlands nahe der schwedischen Grenze in einem Huskycamp als Doghandlerin. Im September 2014 hatten meine Eltern mich und mein Pferd Santano mit dem Pferdeanhänger nach Lappland gebracht. Auto und Anhänger nahmen sie nach ihrem Urlaub wieder mit zurück nach Deutschland. Santano ist seit 20 Jahren ein Teil meines Lebens – ich habe ihn als Fohlen gekauft und selbst ausgebildet. Als ich Deutschland für einige Zeit den Rücken kehren wollte, konnte ich es nicht übers Herz bringen, ihn zurückzulassen. Also traten wir diese Reise gemeinsam an.
Das Leben als Doghandler
Das Camp liegt weit abseits zwischen Sümpfen, Wäldern und Seen. Im Winter reisen jede Woche neue Gäste an. Sie haben eine Woche Wildnis auf dem Hundeschlitten gebucht. In der stummen, verschneiten Winterlandschaft möchten sie dem Trubel des Alltags, aber auch dessen Bequemlichkeiten für ein paar Tage entfliehen.
Das Leben und die Arbeit mit 500 Hunden und 5 Pferden sind ganz anders als mein früherer klassischer Bürojob. Die Tiere freuen sich jeden Tag, uns zu sehen. Sie grübeln nicht, was gestern passiert ist. Sie sorgen sich nicht um den morgigen Tag. Tiere beherrschen das Leben im Moment in Perfektion. Sie kennen keine Eile, keinen Termindruck, sind nicht gestresst, weil ihnen das nächste Meeting im Nacken sitzt. Hunde haben keine Deadlines. Sie sind voll und ganz hier und haben Zeit und fordern genau das auch von uns ein.
Der Alltag hier oben ist viel schlichter und unkomplizierter als in Mitteleuropa. Ich muss weniger Entscheidungen treffen, weil es weniger Möglichkeiten gibt. Wir gehen selten essen. Es gibt kein Kino. Unsere Freizeit verbringen wir draußen in der Natur. Ich habe immer das Gefühl, die Uhren ticken hier in einer der letzten Wildnisse Europas ein wenig langsamer als im Rest der Welt, und gleichzeitig nutze ich meine Zeit viel intensiver. Ich erledige eine Aufgabe nach der anderen statt viele parallel. Ich genieße einzelne Momente sehr intensiv: sehe, rieche, höre, fühle und koste die Vollkommenheit der stillen Augenblicke ganz bewusst aus. Ich lerne, wie ich leben möchte.
Nach diesen drei Jahren in meiner kleinen Seifenblase fernab der Zivilisation kann ich mir einfach nicht vorstellen, Santano wieder auf den Pferdeanhänger zu verladen und in vier Tagen mit einem lauten Knall im hektischen Deutschland zu landen. Ich möchte langsam dort ankommen, um diesen Bruch zwischen den zwei so unterschiedlichen Welten als nicht zu verstörend zu erleben. Ich brauche Zeit für mich, Zeit durchzuatmen, Zeit nachzudenken. „Ich könnte doch nach Hause gehen.“ Am Anfang ist es nur ein flüchtiger Gedanke, der mir in den Sinn kommt, doch schon bald lässt mich diese Idee nicht mehr los und ich überlege, wie ich das Vorhaben in die Tat umsetzen kann. Und so führt mich mein längster Heimweg 2.300 (gegangene) Kilometer über die Straßen Finnlands, Schwedens, Dänemarks und Norddeutschlands: zu Fuß mit Pferd und Hund von Äkäslompolo in Finnisch Lappland nach Wewelsfleth in Norddeutschland.
Doch bevor es losgeht, gibt es noch einiges zu erledigen. Zuallererst lese ich einen Ratgeber – das hat schließlich noch niemandem geschadet. Es bleibt bei einem Sachbuch über das Wanderreiten und einem Reisebericht einer Frau, die mit ihrem Pferd in Deutschland unterwegs war. Das muss reichen. Die größte Herausforderung ist es, einen geeigneten Packsattel für mein Pferd aufzutreiben. Diese Art Sattel ist ausschließlich auf das Tragen von Lasten ausgelegt. Ein Reiter findet nicht zusätzlich darauf Platz. Ich werde also den ganzen Weg zu Fuß gehen. Leider ist das Angebot an solchen Sätteln sehr überschaubar und ich kann keinen passenden für uns finden. Die Lösung des Problems liefert mir am Ende ein Sattler, der über viel Erfahrung im Umgang mit Packpferden aus seiner Zeit in den USA verfügt und den Sattel kurzerhand von genau dort für mich importiert.
Die restliche Ausrüstung kaufe ich mir Stück für Stück zusammen oder leihe sie von meiner Familie. Meine Eltern und einige Freunde bringen jeweils etwas mit, wenn sie mich im Urlaub besuchen.
Das Team ist komplett!
Als ich schließlich den Packsattel, die Taschen und unsere komplette Ausrüstung zusammengesammelt habe, stelle ich fest, dass uns etwas fehlt. Es wird sicherlich niemanden überraschen, dass ich nach drei Jahren unter 500 Hunden unmöglich ohne Hund aufbrechen kann. Ich habe auch schon einen geeigneten Kandidaten im Auge. Romantiker muss ich an dieser Stelle enttäuschen: Qaanaaq ist nicht mein Lieblingshund, sondern einer, den ich für so eine Tour für geeignet halte. Er ist noch sehr jung, gerade mal ein Jahr, und noch keine Saison im Team gelaufen.
Qaanaaq ist eines von 12 Überraschungseiern, mit denen die Mutter von einer Tour zurückkam, Vater unbekannt. Er ist einer der ruhigeren Vertreter des Wurfes. Er bellt nicht viel. Draußen im Wald orientiert er sich gut am Menschen und hält sich in meiner Nähe auf. Als Junghund ist er oft ängstlich und unsicher, bleibt jedoch dabei meistens ansprechbar und ist bereit, sich mit für ihn unheimlichen Dingen und Situationen auseinanderzusetzen. Unser Team ist hiermit komplett.
Warten will gelernt sein
Vor uns liegt also viel Arbeit: erst einmal das rein körperliche Training. Santano muss sich an den Sattel und die Packtaschen gewöhnen und er muss nach dem langen Winter wieder Kondition aufbauen. Wir sind jetzt also bei jeder Gelegenheit unterwegs. Qaanaaq ist den ganzen Winter im weichen Schnee gelaufen und seine Ballen unter den Pfoten sind dementsprechend weich. Ich ziehe ihm anfangs immer nach 6 km auf Asphalt Schuhe für Hunde an, sogenannte Booties, damit er sich nicht die Pfoten wund läuft. Dann steigere ich die Streckenlänge nach und nach, damit seine Ballen sich anpassen und härter werden.
Ich merke schnell, dass mein Schwerpunkt auf Verhaltenstraining liegen wird, denn das körperliche Training verläuft ohne größere Probleme. Santano steht nicht in einer Box, sondern kann sich den ganzen Tag in einem großen Auslauf frei bewegen. Qaanaaq ist ein Husky, also ein Hund, der quasi zum Laufen geboren wurde. Mit der Zeit unternehmen wir immer größere Ausflüge zusammen.
Die Tiere müssen aber noch andere Dinge lernen. Mit Santano übe ich das ruhige Stehen in allen möglichen Situationen – auch wenn er gerade mit seinen Taschen zwischen zwei Bäumen eingeklemmt ist, muss er geduldig dort bleiben, bis ich ihn befreie. Ich trainiere es, die Tiere lange angebunden warten zu lassen. Sie sollen sich dabei entspannen und ausruhen, bis ich zurückkomme. Ich muss schließlich unterwegs auch mal Lebensmittel einkaufen.
Hund und Pferd sollen sich bestmöglich kennenlernen und miteinander vertraut sein, damit sich beide wohlfühlen. Ich hole Qaanaaq öfter mal ins Haus, um ihm ein Basiswissen an Haushundregeln zu vermitteln, denn bislang kennt er außer Schnee, (nordisch aussehenden) Hunden und (erwachsenen) Menschen nicht viel. In der Zivilisation wird der eine oder andere Schock auf ihn warten, zum Beispiel in Form eines Jack Russell Terriers oder eines Kinderwagens mit weinendem Baby. Woher soll er wissen, dass es auch kleine Hunderassen und Menschenkinder gibt? Er hat bislang nie welche getroffen.
Die richtige Route
Jeden Abend brüte ich über der Karte und versuche, die beste Strecke zu ermitteln. Natürlich möchte ich unnötige Umwege vermeiden. Andererseits muss ich mich von der schwedischen Ostseeküste fernhalten, zu der parallel die Europastraße verläuft. Um viel befahrene Straßen und große Städte machen wir lieber einen Bogen. Also plane ich unsere Route etwas mehr im Landesinneren.
In Schweden gibt es das „Jedermannsrecht“. Baden, Boot fahren, Beeren pflücken und Pilze sammeln für den Eigenbedarf, zelten – alles ist erlaubt. Solange man den Grundbesitzer nicht stört und die Natur nicht beschädigt, kann man dort für bis zu zwei Nächte wild campen – ausgenommen sind Acker- und Weideflächen sowie die Nähe zu Häusern. Mein Plan ist, abends jeweils ein geeignetes Plätzchen zu suchen, Zelt und Weidezaun aufzubauen und dann über Nacht dort zu campen. Dass alles ganz anders kommen wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt nicht. In Dänemark und in Deutschland wird es dann komplizierter werden: Wir werden darauf angewiesen sein, dass uns Privatleute auf ihrem Grundstück rasten lassen.
Das allemansrätt, wie es in Schweden heißt, erlaubt nicht nur freien Zugang zur Natur – das gibt es als “Betretungsrecht” auch in Deutschland. Es erlaubt auch das Zelten in der Wildnis und setzt lediglich Einschränkungen wie eine Mindestdistanz des Schlafplatzes zu Häusern fest. Hierzulande braucht es grundsätzlich, um sein Zelt aufzuschlagen, das Einverständnis des Bodeneigentümers. Und wer schon mal versucht hat, den Besitzer einer kleinen Wiese hinter der Pferdekoppel bei Gräfen-Nitzendorf zu ermitteln, der weiß, dass das praktisch kaum möglich ist.
Dass wir in Deutschland bis jetzt kein Jedermannsrecht haben, hat historische Gründe. In den Weiten der nordischen Länder wurden Land und Boden weniger häufig und stark vom Nachbarn abgegrenzt als im dichter besiedelten deutschsprachigen Raum. Mehr noch: In der Grundherrschaft verfügten hierzulande Landbesitzer – meist Adel oder Klerus – bis in das 19. Jahrhundert über starke Rechte gegenüber ihren Untertanen. Im Gegensatz dazu betont das Jedermannsrecht die Rechte der Allgemeinheit gegenüber Grundbesitzern.
Menschen brauchen mehr Wissen über ihre Umwelt. Vor allem aber eigenes Interesse – und das entdecken sie da draußen am besten. Natürlich geht das nicht ohne Respekt und Achtung für die Natur. Naturtourismus sollte – so, wie es in anderen Ländern schon selbstverständlich ist – leise und rücksichtsvoll sein. “Hinterlasse nichts als Fußspuren, nimm nichts mit außer Fotos”, heißt es schon jetzt in vielen Nationalparks der Welt. Wie wär’s, ganz deutsch, mit einem Wildcampingzertifikat, damit ja niemand den Wald abfackelt oder die Weizenfelder zertrampelt?
Ausschnitt aus Die Zeit | “Lasst die Städter wild im Umland campen!” von Nils Erich | Zum Artikel hier klicken (externer Link).
Nach der Richtlinie zur innergemeinschaftlichen Verbringung und Beförderung von Equiden in der EU muss vor jedem Grenzübertritt ein Amtstierarzt das Pferd untersuchen und ein Gesundheitszeugnis ausstellen. Der Tierarzt überprüft die Identität des Pferdes, indem der Chip ausgelesen wird, und untersucht es. In dem Dokument wird genau festgelegt, von wo nach wo das Pferd befördert wird – mit Angabe der Reiseroute. Für jeden Grenzübertritt gibt es eine Ausführung des Zeugnisses, das dem Zoll vorgelegt werden muss. Diese Zeugnisse sind nur 10 Tage gültig, daher werde ich diese Prozedur an jeder Grenze einzeln wiederholen müssen. Mit Hunden ist das Reisen wesentlich einfacher. Sie brauchen nur die erforderlichen Impfungen und gegebenenfalls eine Wurmkur.
Ich denke mir alle möglichen Szenarien aus und bereite die Tiere so gut es geht darauf vor. Wir bauen das Zelt auf und schlafen Probe. Qaanaaq hat noch nie eine Nacht außerhalb seines Zwingers verbracht, dies hier ist neu für ihn. Dasselbe gilt für den mobilen Weidezaun. Ich baue den Paddock auf und trenne Santano stundenweise tagsüber oder nachts von seiner Herde. Es fällt ihm schwer, allein zu sein, er muss sich in kleinen Schritten daran gewöhnen.
Richtig gepackt?
Mein wohl meistbenutztes Utensil vor und während der Wanderung ist … eine Kofferwaage. Ich habe alle Packstücke in Plastiktüten verpackt. Um einen Überblick zu haben, fertige ich ein Inhaltsverzeichnis an, in dem die einzelnen Packstücke mit den Gewichten aufgelistet sind. Danach brauche ich gefühlte Ewigkeiten, bis die Packtaschen sowohl auf beiden Seiten als auch von vorne nach hinten vom Gewicht her gut ausbalanciert sind. Sobald ich Hundefutter, Proviant oder etwas anderes verbraucht habe, wird neu gewogen, gerechnet und umgepackt, bis die gleichmäßige Gewichtsverteilung in der Längs- und Querachse wiederhergestellt ist. Diese Prozedur ist enorm wichtig, damit Santano das Gepäck vier Monate lang Tag für Tag von morgens bis abends problemlos tragen kann und dabei gesund bleibt.
Packliste für mein Pferd Santano, ca. 60–70 kg:
- ein Zelt für 3 Personen mit großem Vorraum zur Lagerung von Packtaschen und Sattel sowie dem Schlafplatz für Hund Qaanaaq
- eine Plane, damit die Ausrüstung an Regentagen nicht im Nassen liegt
- ein Wanderreit-Weidezaunpaddock mit Stromaggregat und Ersatzbatterien
- eine Fliegendecke zum Schutz vor den Mücken und eine Regendecke zum Schutz vor Nässe für Santano
- Isomatte und Schlafsack
- eine Schlafunterlage für Qaanaaq, Sport-Hundefutter, Booties, einen Reisenapf
- 2 Bürsten für Santano, einen Schwamm, einen Hufkratzer, eine Hufraspel, ein Hufmesser, eine Zange, um im Notfall ein Eisen abnehmen zu können
- Mückenspray für Pferd und Mensch
- Kocher und Geschirr, Brennstoff und Proviant
- ein Faltkanister zum Wasserholen, eine Faltschüssel
- Ersatzklamotten, ein paar zusätzliche Wanderschuhe
- mein Kulturbeutel mit dem nötigsten Inhalt (Outdoor-Seife, Deo, Kontaktlinsenreinigung, Bürste, Sonnencreme, Schere, Pinzette, Zeckenzange …) und ein Outdoor-Handtuch
- Medikamente für Pferd, Hund und Mensch, homöopathische Reiseapotheke
- Kartenmaterial
- Kofferwaage
- Reitkappe
- Kabelbinder, ein Seil, Draht, Waschmittel aus der Tube, Tape, Nähzeug, Plastiktüten, Zeltreparatur-Set
» Unterwegs komme ich auf die grandiose Idee und packe Hundefutter in 100- oder 200-g-Beutel, die allein dafür da sind, fehlendes Gewicht auszugleichen. Genial, oder? Warum stand das nicht in meinem Ratgeber? «
Auf den Taschen befestige ich einen grünen Gummieimer für Santanos Wasser. Dieser wird mit einer Drahtleine gesichert, an der ich nachts Qaanaaq am Zelt anbinde – absolut durchkausicher. In den Rucksack packe ich alles, was ich schnell greifbar haben muss, da ich die Packtaschen tagsüber nur sehr schwer erreichen kann, ohne sie vom Pferd zu nehmen.
Alles für die Tour
Weitwandern wie Sarah
Packliste für meinen Rucksack:
- Handy, Portemonnaie, die Kamera, Powerbank
- Equidenpass für Santano und Heimtierausweis für Qaanaaq
- Reisedokumente, Streckeninfos, Kompass, aktuelle Karte
- ein Erste-Hilfe-Set und wichtige Notfallmedikamente, ein paar Booties für Qaanaaq
- ein Notizblock, mein Reisetagebuch, Stifte
- eine Trinkflasche mit Wasser, Snacks für den Tag
- meine Stirnlampe, Streichhölzer, Feuerzeug, Multitool
- Taschentücher, kleines Handtuch
- Mückenspray
- je nach Wetter zusätzliche Klamotten zum Überziehen
- neue Einkäufe
Die Reise beginnt
Es ist der 23. Juni 2017. Santano, Qaanaaq und ich brechen auf ins Abenteuer. Vier Monate liegen vor uns, die wir hauptsächlich auf den Straßen, Forststraßen und Waldwegen Schwedens verbringen werden. Ich habe Angst vor den Ungewissheiten, die so eine Reise mit sich bringt, und mir fällt es unbeschreiblich schwer, mein lieb gewonnenes kleines Paradies hier im hohen Norden zu verlassen.
In den ersten Wochen denke ich ständig ans Aufhören, jammere meinen ehemaligen Kollegen die Ohren voll, berichte ihnen, wie schrecklich alles ist, und bitte sie, uns zurück ins Camp und mein altes Leben zu holen. Heute bin ich dankbar, dass sie mein Genörgel galant ignoriert haben. Santano ist nervös, weil er sich ohne seine Pferdeherde einsam fühlt. In den ersten Nächten läuft er in seinem Paddock ununterbrochen im Kreis und wiehert gelegentlich.
» Oft schreie ich meinen Schmerz und Frust laut in die schweigenden Wälder Lapplands oder fluche vor mich hin – die endlosen Straßen Schwedens als stille Zeugen. «
An Schlaf ist nicht zu denken. Qaanaaq weist riesige Wissenslücken im Fach Zivilisation auf und rollt sich jeden Abend völlig erledigt von den ganzen neuen Eindrücken im Zelt zusammen – wenn ihn nicht die Mücken daran hindern. Ich bin mit den Nerven am Ende: Abschiedsschmerz, Mitleid mit meinem Pferd, Schlafmangel, eine zerbrochene Zeltstange, eine Entzündung im Bein, mein Hund mit einer allergischen Reaktion wegen eines Insektenstichs … Oft schreie ich meinen Schmerz und Frust laut in die schweigenden Wälder Lapplands oder fluche vor mich hin – die endlosen Straßen Schwedens als stille Zeugen. Außerdem macht mir mein schwerer Rucksack zu schaffen, der meine Hüftknochen grün, blau und wund reibt. Wozu haben wir eigentlich trainiert?
Zwischen den Sümpfen und den Wäldern Nordschwedens ist es nicht immer einfach, einen geeigneten Übernachtungsplatz zu finden. Wir sind drei Individuen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen. Die zwei wichtigsten Kriterien für einen Rastplatz sind Gras und Wasser. Wir benötigen Plätze, an denen so viel Gras wächst, dass Santano über Nacht genügend fressen kann. Im Wald stehen die Chancen dafür schlecht – es sei denn, wir finden eine Lichtung. Es darf aber auch keines der vielen nordschwedischen Sumpfgebiete sein: Egal wie üppig das Gras dort auch wächst, die Zaunpfähle finden keinen Halt und Santano kann nicht über Nacht im Nassen stehen – abgesehen davon, dass Qaanaaq und ich dankend auf ein Wasserbett verzichten. Im Umkreis von einigen hundert Metern eines grasbewachsenen Übernachtungsplatzes benötigen wir zudem einen See, Fluss oder Bach. Wer 30 km am Tag gewandert ist, geht keine weiteren zwei Kilometer, um Wasser zu holen – zumal ein Pferd sich nicht mit dem Inhalt einer 1-l-Trinkflasche begnügt, sondern je nach Tagesform mehrere 10-l-Eimer leert.
» Irgendwann wird aus unseren drei verschiedenen Persönlichkeiten eine Gruppe, eine Herde, ein Rudel. Anfangs bemerke ich es kaum, aber langsam entsteht ein Gefühl der Verbundenheit. «
Irgendwann wird aus unseren drei verschiedenen Persönlichkeiten eine Gruppe, eine Herde, ein Rudel. Anfangs bemerke ich es kaum, aber langsam entsteht ein Gefühl der Verbundenheit. Qaanaaq schließt mit Santano Freundschaft und auch Santano hängt an seinem bellenden Gefährten. Er passt auf, dass er dem Hund nicht auf die Pfoten tritt. Er schaut in den Pausen, wo Qaanaaq liegt, und ist ruhig und entspannt, wenn er seinen Hundefreund in der Nähe weiß. Bei mir stellt sich zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Akzeptanz ein. Ich nehme die Tiere so, wie sie sind, und respektiere ihr Bedürfnis nach der Nähe zueinander.
Wir finden unseren Rhythmus. Nach einer Stunde Gehen machen wir 10 bis 20 Minuten Pause, damit Santano grasen kann und so tagsüber genügend Futter bekommt. Mittags machen wir ein bis zwei Stunden Pause – je nach Wetter und Schönheit des Rastplatzes. Meistens frisst Santano die erste Hälfte der Mittagspause und gesellt sich die übrige Zeit zu uns, um zu dösen, und spendet Qaanaaq so seinen geliebten Schatten. Oft lasse ich Santano mittags frei um uns herum laufen. Wir gehören zusammen, das ist nun allen klar.
Mit Tieren zu reisen, bedeutet, dass die Tiere immer zuerst kommen. Ich stelle meine eigenen Wünsche zurück, solange ihre Bedürfnisse nicht erfüllt sind. Ich esse nicht, bevor sie nicht gefressen haben, ich baue mein Zelt erst auf, wenn Santano abgesattelt und im Paddock untergebracht ist. Ich setze oder lege mich nicht hin, bevor nicht die Hufe ausgekratzt und die Pfoten auf Verletzungen überprüft sind.
Die Güte der Menschen
Unterwegs stoßen wir auf etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte: die bedingungslose Gastfreundschaft der schwedischen, dänischen und norddeutschen Bevölkerung. Autos halten an der Straße und ich werde gefragt, ob bei uns alles in Ordnung ist? Ob wir wissen, wo wir sind? Ob wir Wasser bräuchten? Familien laden uns spontan zum Kaffee mit Erdbeertorte in ihren Garten ein. Qaanaaq liegt unter dem Tisch, Santano frisst Gras im Garten und ich sitze mit großherzigen Menschen zusammen, die sich freuen, ein Teil des Abenteuers zu sein.
Überall erhalten wir Unterstützung und Hilfe. Entlang des Weges öffnen die Menschen die Türen zu ihren Häusern und ihre Herzen für uns. Sie laden uns ein, in ihren Ställen, ihren Häusern, auf ihren Feldern und in ihren Gärten zu übernachten. Wir schlafen in alten Wohnwagen, auf urigen Scheunenböden, in Gartenhäusern und werden mit geräuchertem Rentierfleisch, Elchfrikadellen und schwedischen Pfannkuchen verwöhnt.
Als mein Hund krank ist, fahren Nick und seine Familie 50 km, um uns mit dem Pferdeanhänger abzuholen und Qaanaaq zum Tierarzt zu fahren. Und sie nehmen uns für weitere fünf Tage herzlich bei sich auf und versüßen uns den Aufenthalt mit Ausritten, Ausflügen in die Umgebung und Lagerfeuern.
» Unterwegs stoßen wir auf etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte: die bedingungslose Gastfreundschaft der schwedischen, dänischen und norddeutschen Bevölkerung. «
An einem anderen Tag, in einer anderen Nacht finden wir vor lauter Wald und Sumpf keine geeignete Übernachtungsmöglichkeit, die den Bedürfnissen von Santano gerecht wird. Also laufen wir weiter … und weiter … und weiter. Bis ich schließlich um Mitternacht ein Foto von der Sonne mache, die hier immer noch scheint, und auf Facebook in meinem Blog poste, dass das hier wohl unsere Mitternachtssonnenwanderung wird, weil wir keinen Platz zum Schlafen finden. Um 3 Uhr nachts kommt uns ein Auto mit einem Pferdeanhänger entgegen. Der Mann hält an und fragt uns auf Englisch: „You look tired. Do you want to come to our place?“ Er deutet auf den Anhänger. Ich nicke voller Dankbarkeit. Wir laden Santano auf und ich falle völlig erschöpft in das Gästebett – nach 56 gegangenen Kilometern! Am nächsten Tag legen wir eine Pause ein – ganz spontan, unkompliziert, ungeplant. Ich werde diese Nacht nie vergessen und ich werde auch keinen dieser wunderbaren Menschen vergessen, die mit mir zusammen diese Geschichte geschrieben haben.
Irgendwann höre ich auf zu zählen: Kilometer, Tage, Etappenziele. Es ist nicht mehr wichtig, wie weit wir heute gegangen sind. Es scheint unbedeutend, wie viel noch vor uns liegt. Was zählt, sind diese vollkommenen Augenblicke inmitten unberührter Natur. Es ist der Moment, in dem die Ruhe der schwedischen Wälder zu meiner Ruhe wird. Ankommen ist nicht mehr die Priorität, denn vielleicht bin ich das bereits?
Genau wie den Anfang kann ich das Ende dieser Reise nicht klar definieren. Die Souvenirs, die ich am Wegesrand gesammelt habe – einen flüchtigen Gedanken, neue Sichtweisen auf das Leben, bewegende und bereichernde Begegnungen entlang des Weges, wertvolle Fehler, das Gefühl von Vollständigkeit –, trage ich weiterhin als kostbare Schätze in mir.
SARAH, SANTANO und QAANAAQ
Alter: 35, 20 und 4 | ursprünglicher Beruf: Schifffahrtskauffrau
| Facebook: @Hufmarsch – unser längster Heimweg
“Im Moment arbeite ich im Büro einer kleinen Metallverarbeitungsfirma und versuche aus dem Alltag (m)ein Abenteuer zu machen: öfter mal etwas Neues ausprobieren und sei es nur eine Kleinigkeit wie ein neues Rezept, im Garten schlafen oder an fremden Orten mit Qaanaaq spazieren gehen und die unbekannte Gegend erkunden. Im Urlaub zieht es uns oft hoch in den Norden nach Skandinavien zum Wandern. Ich wünsche mir irgendwann diese Reise, die mittlerweile 3 Jahre zurückliegt, zu Papier zu bringen.”
Santano, mein Haflnger, steht mit seinen alten Pferdefreunden im selben kleinen Privatstall. Er genießt es beim Ausreiten durch die Gegend zu streifen und dabei den einen oder anderen Grashalm zu erhaschen, am Hals gekrault zu werden und seine Tricks – von denen er einige im Repetoire hat- zu zeigen. Ich hoffe, vor uns liegen noch viele gemeinsame Jahre.
Qaanaaq kommt ab und zu mit ins Büro und hat die Kollegen erfolgreich um seine Pfoten gewickelt. Im Winter fahren wir lange und oft Fahrrad und er zieht mich am Dog-Scooter, im Sommer liegt er faul im Garten. Auf Wanderungen trägt er mittlerweile sein eigenes Futter in einer Hundepacktasche auf seinem Rücken.