Unsere Kolumnistin ist eine Multi-Outdoorsportlerin wie sie im Buche steht und – eh klar – am liebsten an der frischen Luft unterwegs. In der fünften Folge teilt sie mit uns ihr schwieriges Verhältnis zu Klettersteigen.
Es gibt Menschen, die mich nicht kennen. An sich nicht ungewöhnlich, da geht es euch wohl kaum anders. Allerdings – und das beunruhigt mich – gibt es Menschen, die mich persönlich nicht kennen und dennoch aus der Ferne annehmen, ich wäre ein menschgewordener Müsliriegel. Wohl einfach, weil ich hier und dort aus der Sportindustrie berichte. Nun ist diese Annahme keineswegs berechtigt. Meist fühle ich mich eher wie ein Stück Brot, an dem ein Neunmonatiger seit Stunden herumnuckelt.
Was ich zum Beispiel so wenig kann wie Fensterputzen oder die Kardashians auseinanderhalten ist Klettern. Bouldern, Trad, Speed, Sport, Mixed. Nichts davon beherrsche ich. Die Ursachen liegen in meinen Teenagerjahren begraben und da lassen wir sie auch lieber liegen. Nur so viel: Selbstverständlich war ein (damals 17-jähriger) Mann schuld (und vielleicht auch ein wenig mein 16-jähriges äußerst trotziges Selbst).
»Klettersteige sind die Labradore unter den Alpinsportarten«
Und schon sind wir beim Thema Klettersteig und der Tatsache, dass ich auch diesen nicht mag. Ich weiß, dies ist ein Drahtseilakt, da sicher viele, viele von euch eherne Klettersteig-Enthusiasten sind. Klettersteige sind die Labradore unter den Alpinsportarten. Ein jeder mag sie. Ich nicht.
Für mich ist der Berg ein Ort, wo der Kopf das Weite sucht. Wo man sich ein wenig verlieren kann. Klettersteige sind gespickt mit Eisen, das Aufmerksamkeit einfordert. Hätte Petrarca, der Wegbereiter des Humanismus, auf einer Doppel-Helix-Himmelsleiter sein Erweckungserlebnis erfahren? Wäre er ins Grübeln gekommen über die menschliche Überbewertung der Außenwelt und die Vernachlässigung der Seele, wenn er bei seiner Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 ständig Karabiner hätte ein- und aushängen müssen? Wohl kaum. Sein Brief über die Besteigung gilt als »Scharnier zwischen Mittelalter und Neuzeit«. Mit Klettersteig hätte dieses Scharnier kräftig geklemmt.
Wir springen ins 20. Jahrhundert: Es war meine erste Klettersteigtour. Sagt mir, wie soll ein Gefühl von Freiheit aufkommen, wie sollen die Gedanken schweifen, Demut und Wehmut die Seele erfassen, wenn man hinter drei wahnsinnig redseligen jungen Männern aus dem Schwäbischen gefangen ist? Ich könnte heute noch von jedem Hintern blind eine Blaupause erstellen. Dann rückten hinter uns wanderbenadelte Senioren auf. Ihr Atem ging schwer, dafür lief der Schweiß umso leichter – und bald auch die Sprüche. Bei Gott, ich bin Pazifistin, gern auch Humanistin, aber hätte sich ein Presslufthammer in meinen Händen befunden, ich hätte sie allesamt an den Fels genagelt.
Und dann kommen mir doch auch wieder sehr humane Erinnerungen. Von einem Hintern, dem ich so gerne auf der Leiter hinterherstieg. Er mir das Klettersteigset anlegend, im Rhythmus klickend, sehr menschliche Dinge denkend. Oder an Giordano, dem Bergführer in zerrissenen Jeans, der sich leicht und geschmeidig in der »Via Ferrata delle Aquile« an den Wänden der Paganella bewegte. Mein Schuh auf einem Millimeterabsatz, darunter Luft, 200 Höhenmeter Luft bis Trient. Ausreichend Luft für freie Gedanken und große humane Dankbarkeit.
SISSI PÄRSCH ist Autorin, fährt Ski, geht Laufen und Biken. Ursprünglich stammt sie aus dem Allgäu, zahlt viel Miete in München und ist doch meist auf Reisen. Sie mag Bewegung und Menschen sehr gern – genauso wie Kaffee und Einkehren.