… und wieder hinunter. Comedy-Star und Fernsehmoderator Wigald Boning tourte durch die Bundesrepublik, um ebendiese von oben zu betrachten. Von den höchsten Gipfeln der 16 Bundesländer, die – zugegeben – manchmal nicht höher waren als sein Fahrradsattel. Mit Selbstironie, Wortspielen und Geschichtswissen im Gepäck machte er sich auf den Weg, die Höhe und Tiefen des Landes zu erkunden. Teilweise begleitet von Komiker-Kumpel Bernhard Hoëcker, der die Tour nur knapp unbeschadet überstanden hat.
1215 m
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167 m
2962m
Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Deutschland unsere, meine Heimat ist. Zeit, dieses süßsaure Heimatland einmal neu kennenzulernen. Wie könnte man sich einen besseren Überblick verschaffen als von oben? Zur ISS schaffe ich’s nicht, Drohnen sind zu gewöhnlich für meinereiner, also besteige ich Deutschlands höchste Berge. Oder, genauer gesagt, die höchsten Gipfel der 16 deutschen Bundesländer. Sweet little sixteen Summits. So lautete der Beschluss, fünf Jahre ist es her, und stolz kann ich hiermit Vollzug vermelden.
Als Komiker, Musiker und Fernsehmoderator ist Wigald Boning längst bekannt. Als Globetrotter erst seit ein paar Jahren, als er einen Sommer lang insgesamt 204 Nächte draußen im Zelt verbrachte. Viele davon an der Isar, aber auch an ungewöhnlichen Orten wie dem Stadion von Werder Bremen.
Gibt’s denn da überhaupt Berge? Aber ja doch! Nachgerade zerklüftet, wie in Karl Mays Land der Skipetaren. Zwölf Kilometer misst die Wanderung vom Harburger Bahnhof bis zum höchsten Punkt der Hansestadt. Hier, in den »Schwarzen Bergen« wird viel geritten, genau wie bei Karl May. Kurzes Lauschen – nein, da sind keine Indianer, auch keine Cowboys; ich bin allein hier, in dieser durchnässten Wildnis vor der großen Stadt. Am Durchschnittsdienstag um die Mittagszeit ist die Menschendichte jener im Karakorum ähnlich. Niemand stört und niemand hülfe, wenn ich am Gipfelanstieg umknicken sollte. Darum gebe ich fein acht, als ich – es ist im Verlauf der letzten halben Stunde immer stiller geworden – zum großen Sprung ansetze.
Pfützen allüberall. Also aufauf, matschimatschi, der Berg ruft wie ein Koberer von der Reeperbahn. »Kommse rauf, könnse runterkucken.« Nach scharfer Rechtskurve erkenne ich bereits den Gipfelaufbau des Hasselbracks, der stolze 116 Meter misst. Ein Prachtkerl, der. Hamburg, deiner Berge Perle. Das mit dem Stolz meine ich gar nicht ironisch; Größe ist nicht entscheidend, schon gar nicht bei Bergen. Für mich als Oldenburger sind 100 Meter schwindelerregend. So was Hohes gibt es zwischen Bremen und Amsterdam nirgends. Das erhabene Gipfelgefühl durchdringt mich hier jedenfalls nicht weniger als in den Alpen. Doch nicht nur erhaben sind Moment und Ort, sondern das Wagner-Idyll ist: gebrochen. Mund und Braue stehen schräg, als ich den graffitisierten Gipfelstein betrachte. Hand von Zwerg beschmieren Tisch und Berg, wie man so schön sagt. Merke: Wir sind in einer Großstadt!
Mag Hamburg das Tor zur Welt sein, so befindet sich hier, in den Harburger Bergen, das dazugehörige Tor zum Himmel.
An der Haltestelle »Blankenfelde Kirche« verlasse ich den Bus 107, hier weicht die Stadt schläfriger Dörflichkeit. Auf der »Hauptstraße«, die als solche nicht unbedingt zu erkennen ist, wandere ich bergwärts. Bald folge ich dem »Graben 33 Blankenfelde«, die Spannung steigt, und nach einer weiteren Linkskurve zeigt sich in der Ferne mein Ziel: ein breiter Buckel, ein Ayers Rock in Frühlingsgrün. Aprilfrische. Grüner wird’s nicht. Eine lange Schottergerade führt mich an den Fuß des Berliner Bergmassivs Nr. 1, das Häubchen der Hauptstadt, den K2 der Kapitale. Oder ist’s nicht eher der Kilimandscharo, an den man denkt? Dessen Gletscher wird seit Jahren immer kleiner, und auch die Arkenberge präsentieren sich heute schneefrei. Keine Lawinengefahr.
Erschwert wird die Besteigung nicht durch die Launen der Natur, sondern durch einen Zaun, der das gesamte Gelände umschließt. Ob man Alpinisten wie mich vor der Gefahr schützen will? Sind die Arkenberge kontaminiert? Kurz zur Geschichte: Eigentlich bezeichnet der Name einen natürlichen Höhenzug mit bis zu 70 Metern Höhe, der aber im Laufe des 20. Jahrhunderts sukzessive abgebaggert wurde. Ab 1984 wurde westlich des Ex-Gebirges eine Bauschuttdeponie eingerichtet, die im Jahr 2015 die 122-Meter-Marke überragte und somit den Teufelsberg als bis dahin höchsten Punkt Berlins entthronte. Auch der Teufelsberg ist ein Schutthügel, und man kann natürlich die Frage aufwerfen, ob Menschenwerk überhaupt qualifiziert ist, wenn’s um den Titel »höchster Berg von Wasweißich« geht. Die höchste natürliche Erhebung Berlins ist jedenfalls der Große Müggelberg, 114,7 Meter hoch. Kann ich bei Gelegenheit nachschieben.
Die Komoot-Navigations-App führt mich zur Schlüsselstelle meiner Unternehmung, einer Ausbeulung im Zaun; ich klettere hinüber, balanciere über einen Wall aus Ästen, springe über einen Graben und halte inne. Die Luft ist rein, jetzt nichts wie rauf. Eine ausgewaschene Mountainbike-Spur führt mich mit 23 Prozent Steigung den baumlosen Hang hinauf. Sogleich ändert sich meine Seelenlage: Es klingt verrückt, aber augenblicklich wähne ich mich im Hochgebirge, atme freier, fühle mich dem Himmel näher. Der Blick weitet sich, und mit ihm mein Herz. Ich gehe extra langsam, um den kurzen Gipfelsturm maximal auszukosten. Mein Motto: Wandere immer so, als gingest du zum allerletzten Mal. Aber auch im Schneckentempo ist der höchste Punkt nach wenigen Minuten erreicht. Eine weite Hochebene, in deren Mitte ein Findling ruht. Kein Kreuz, na klar, wir sind im gottlosen Berlin. Im Norden eine Datschenkolonie, im Süden Fernsehturm und Co, im Osten die Blankenfelder Seenplatte.
Farbige Steinquader fesseln meine Aufmerksamkeit. Das könnten sie sein, die legendären Ur-Legosteine, nach deren Vorbild das beliebte Spielzeug geformt ist. Oder gehören sie zum hier deponierten Bauschutt? Noch ehe ich dieses geologische Rätsel lösen kann, zwingt mich Proviantmangel zum Abstieg. Es ist 11:03 Uhr und mein Magen knurrt. Kein essbares Tier, keine Pflanze bietet sich dem Forschungsreisenden in dieser kargen Wildnis. Also hudeldihudel westwärts, ins Tal, ans Tegeler Fließ, den Grenzfluss zum Land Brandenburg. Zurück in der Zivilisation.
Nüchel heißt das kleine Örtchen, in dem ich auf meinem Klapprad die L178 verlasse, und die Landschaft knittert. Nicht nur kleine Eselsöhrchen, sondern veritabler Faltenwurf. Weite Schwünge, Koppen, Täler, ein Relief wie bei den Teletubbies. Kein Zweifel: Ich nähere mich dem Hauptkamm der Holsteinischen Schweiz. Im kleinen Gang arbeite ich mich hinauf zum Gut Kirchmühl, dann parke ich mein Rad und rüste mich zum Gipfelsturm (heißt: Schuhe zubinden). Auf eher subalpinem Trail trotte ich steigungsarm zum gut erkennbaren Doppelgipfel, auf dem sich Kultbauten aus gleich mehreren Epochen besichtigen lassen: der Elisabethturm (erbaut vom Oldenburgischen Großherzog 1884 – quasi »unser« Beitrag), dann die Gastwirtschaft »Waldschänke«, der Kleinkinderspielplatz, fein säuberlich getrennt vom Kinderspielplatz, die Logistikgebäude der Stiftung, die sich um die Versiegelung, äh, Attraktivisierung des Bungsbergs bemüht, dann das Stiftungsgebäude selbst (»Wenn’s um Geld geht: Sparkasse«), ein »moderner« Fernsehturm mit Aussichtsplattform (bei guter Sicht Blick auf die Ostsee), eine »Gletscherrinne«, ein »Besiedelungsplatz«, und – gleichsam als Open-Air-Foyer dieser Kultstätte – der Parkplatz.
Funk und Fernsehen sind hier ebenfalls vertreten, mit einem in seiner Vielfalt weltweit einzigartigen Ensemble unterschiedlicher Sendeanlagen. Sogar der Elisabethturm diente zwischen 1954 und 1960 als UKW-Sendeanlage. Der Bungsberg hat eine Mission, er atmet Sendungsbewusstsein. Aber er ist nicht nur Kultstätte der Television, sondern auch des konkret-körperlichen Vergnügens. Auf dem Bungsberg nämlich befindet sich Schleswig-Holsteins einziges und Deutschlands nördlichstes Skigebiet. Wenn die Schneelage es zulässt, bietet der Nordosthang mehrere Abfahrten, die in allen Varianten nach circa 25 Sekunden enden. Rekordwinter war die Skisaison 2009/10 mit 54 Lifttagen. Immerhin.
Mit einer Bewerbung um die Ausrichtung Olympischer Winterspiele konnte man sich bisher nicht gegen die starke Konkurrenz durchsetzen. Obwohl ich’s famos fände – dann würde sogar ich wieder Olympia gucken. Die hiesige Sendelogistik erfüllt schon mal alle denkbaren Erwartungen.
Dieser Blogartikel ist eine kleine Essenz aus einem wunderbaren Buch, welches Wigald zum 300-jährigen Bestehen des Gräfe-und-Unzer-Verlags verfasst hat. In »Der Fußgänger« geht er alle Varianten der enorm nachhaltigen Fortbewegungsform durch: Vom ziellosen Flanieren und Arbeitswegen mit Aktentasche über burschikose Torkeleien, Stechschritt und Gehumpel bis zum von Ehrgeiz durchwalkten Grenzgang durch Fels und Firn.
Es erscheint am 4. Oktober und ist dann unter der Artikel-Nummer 1260397 für 20 Euro auch bei Globetrotter erhältlich.
Doch damit nicht genug, verlost Globetrotter zur Feier des (Wander-)Tages fünf Exemplare von »Der Fußgänger«. Preisfrage: Welcher der deutschen 16 Summits ist der niedrigste? Einsendeschluss ist der 15. Oktober.
Juni 2018. Rot geht im Osten die Sonne auf, als ich morgens um fünf von Berlin-Weißensee kommend auf der L100 durch Wandlitz rolle. Mein Tagesvorhaben: von der Teutonenmetropole auf dem Faltrad nach Usedom. Von Bischofswerder geht’s an der Havel entlang bis nach Zehdenick, wo ich lecker Pflaumenkuchen frühstücke, dann weiter nach Templin, das verwunschene Backsteinidyll. Anschließend begegne ich einem weißgreisen Liege-Radler, mit dem ich ins Plauschen gerate. Er versucht mich fürs Liege-Radeln zu begeistern, ich wende die mangelnde Bergtauglichkeit ein.
Und damit gebe ich mir selbst ein Stichwort: Berge. Höchste Eisenbahn, zu überprüfen, ob ich nicht zufällig am höchsten Berg Mecklenburg-Vorpommerns vorbeikomme, um diesen meiner 16-Summits-Sammlung beizufügen. Check: Ja, der Helpter Berg liegt zufällig am Weg. Er befindet sich zwischen der Stadt Woldegk und der Gemeinde Helpt, und ich erreiche ihn am Mittag, nach etwa 125 Kilometern Anfahrt. Die Gegend ist gewellt, von lieblichem Charakter, alte Eiszeit, so eine Wuthering-Heights-Landschaft. Man könnte hier auch Rosamunde Pilcher drehen. Von der Straße aus ist die höchste Kuppe eher mitteldeutlich erkennbar, auch, weil die Hügel mit opulenten Waldfrisuren verziert sind. Der Fernsehturm schließt aber alle Zweifel aus, fungiert wie ein Textmarker. Ja, Sie sind richtig, HIER spielt die Musik!
Und da erkenne ich auch schon ein Hinweisschild, das den Helpter Berg als touristisches Highlight ausweist. Ich stelle mein Rad ab. Zunächst geht es einen schmalen Ackerpfad bergauf, dann geht es auf wenig begangenem Weg durch den Wald. Leichte Orientierungsschwierigkeiten. Manches ist zugewachsen, andere Baumschneisen meinem Navi unbekannt. Haupthindernis der Unternehmung sind jedoch die Mücken, die in diesem Wald jeden erbarmungslos attackieren, der ungebeten eindringt, um den Gipfel zu erobern. »Kurze Hosen, Radlerleibchen: Lecker!«, schmatzen sie gierig im riesigen Chor. Bald nähere ich mich dem Gipfel, erkennbar an der dazugehörigen Infrastruktur: Schutzhütte rechts, Parkbank mittig, davor das Gipfelkreuz. Macht alles einen eher selten besuchten Eindruck, aber als Rookie bin ich womöglich außerhalb der Saison hier – eben dann, wenn die Mücken ihr Unwesen treiben und kein Local, kein Mecklenburger Sherpa den Weg wagen würde. Ich erledige einige der Biester und zwinge mich zu einem Lächeln für das Gipfel-Selfie. Schauspielerische Glanzleistung, denn allein während der kurzen Belichtungszeit verliere ich einen Deziliter Blut.
Aussicht im konventionellen Sinne ist eher nicht vorhanden, demzufolge auch kein Panorama. Nur dichte, Mücken verschwirrte Waldeinsamkeit. Nach dem Abstieg setze ich mich wieder auf mein Rad und kühle meine Stiche mit scharfem Fahrtwind. Durst; der Blutverlust will ersetzt werden. Um meine leeren Flaschen zu füllen, lade ich mich bei einer äußerst abgelegen wohnenden, s e h r l a n g s a m sprechenden und sich bewegenden Dame in Kittelschürze in die Wohnküche ein, und der Pilcher-Film bekommt einen Touch Stephen King: Sie verlässt das Zimmer mit den Buddeln, die Tür geht zu. Nichts passiert. Beklommenes Warten. Nach einer Viertelstunde ist sie wieder da, die Flaschen voll, ich am Leben. T s c h ü s s! Weiterer Tagesverlauf: Mittagessen in Friedland, mit der Radlerfähre von Anklam nach Usedom, am Steuerruder ein perfekt gecasteter Seebär. Weiter in die Kaiserbäder, und dann, nach 216 Kilometern: rein in die Fluten.
Die höchste (natürliche) Erhebung des Landes Bremen (von »Berg« mag man hier nicht wirklich sprechen) befindet sich im Friedehorstpark im Ortsteil Lesum: Mit 32,5 m über Normalnull abgeschlagen auf dem letzten Platz unter den 16 Summits der deutschen Bundesländer. In den einschlägigen Foren wird er als Geheimtipp gehandelt, denn er ist der einzige Höhepunkt, auf den nicht mit Gipfelkreuz, Stein, Hütte, Plakette oder sonst wie hingewiesen wird. Hanseatische Bescheidenheit? Oder der klammen Kasse des Senats geschuldet? Nichts wie hin zum Ortstermin.
Am Eingang des Parks steige ich vom Klapprad, schiebe die Mähre über die Parkwege und überlasse mich meinem grenzenlosen Staunen. Tatsächlich, da ist nichts, was man für eine Bodenerhebung halten könnte. Eine Baumgruppe steht etwa da, wo angeblich verlässliche Internet-Spezialseiten den Gipfel verorten, davor ein Brennnesselnest: Ja, das könnte es sein. Die piksige Brennnessel als wehrhafter Wächter dieser obersten Sprosse der unsichtbaren Bremer Himmelsleiter. Kaum zu fassen, dass man derlei nicht anständig markiert. Bremen, so behauptet jedenfalls mein Papa gern, habe eine der größten Sektionen des Deutschen Alpenvereins. Also, liebe Bremer Alpinisten, erklärt euch, mir, warum man den Peak mühsam suchen muss. Oder gibt es hier gar keinen »höchsten Punkt«? Nein, meine Quellen sind seriös (Internet). Um auch ja nichts zu verpassen, begehe ich vorsichtshalber kreuz und quer alle Wege. Mit gemischten Gefühlen (»I did it«-Gipfelglück, verquirlt mit dem Gleichmut des Desillusionierten) verlasse ich den Friedehorstpark wieder und erklimme mein Klapprad (gefühlt deutlich höher als Bremens höchster Punkt).
Da war ich schon einige Male, erstmals im Anschluss an den »Zugspitz Extrem-Berglauf« zum Sonnalpin, müsste 2003 gewesen sein. Apropos Gewese: Die Zugspitze ist das vollkommene Gegenstück zum Geheimgipfel in Bremen. Alles an der Zugspitze ruft: »Hallo, hier bin ich!«, er ist der extrovertierte Gernegroß, der Donald Trump unter den deutschen Bergen. Seine Spitze ist in drei Etagen unterteilt, ausgehöhlt und für sämtliche Geschmäcker mundgerecht zubereitet. Vor Jahren bestieg ich sie mit Johann Mühlegg, dem umstrittenen Langlauf-Exzentriker, und am Höllentalferner kam uns die Idee, dass Stöckelschuhe für den Einsatz im Hochgebirge unterschätzt werden: Pumps-Spitzen passen in die engsten Felsritzen, während die Ferse beim Klettern eh frei in der Luft hängt. Auf Gletschern wiederum zieht man die Schuhe aus und vertraut auf die Haftreibung der Socken, während die Stöckel als Eisbeile dienen.
Seither träume ich davon, die Zugspitze eines Tages auf High Heels zu erklimmen. Mein jüngster Versuch endete im Juli dieses Jahres nach Start in Ehrwald kurz vor der Knorrhütte infolge technischen Defekts (Stöckelbruch), der mich dazu zwang, den Restweg in herkömmlichen Bergschuhen zurückzulegen. Das Alpinstöckeln ist übrigens eine zuverlässige Methode, sich in sozialen Netzwerken üppige Shitstürme einzufangen – wahrscheinlich völlig zurecht.
Die restlichen zehn Summits erklomm ich allesamt gemeinsam mit Bernhard Hoëcker, und zwar im Rahmen unserer »Gute Frage«-Tourneen.
Unser erster gemeinsamer Gipfel war der Dollberg im Saarland (695 m). Im Januar 2020, also kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, befanden wir uns auf einer Auftrittsreise, die uns aus der Schweiz über Liechtenstein und den Rheingraben nordwärts führte. Tourmanagerin Renate parkte den Wagen in der Ortschaft Neuhütten, von wo aus mein berggängiger Kollege und ich den Gipfel erstürmten.
Als passionierter Geocacher interessierte sich Bernhard nicht zuletzt für die am Wegesrand abgelegten Caches, und auf dem kurzen Gang über den waldigen Bergrücken wurde er fündig. Den Gipfel ziert ein umgekippter Baumstamm, außerdem eine gepflegte Beschilderung, vor der sich auch die Fotobedürfnisse verwöhnter Unterhaltungsfachkräfte spielend befriedigen lassen. Das erhebende Erlebnis löste eine richtiggehende Entdeckereuphorie aus. In unserer Begeisterung planten wir eine Tournee, deren Zweck (neben dem abendlichen Entertainment) darin bestand, mir bzw. uns die Komplettierung meiner, will sagen unserer, Gipfelsammlung zu ermöglichen.
Corona zwang uns, die Realisierung dieses Vorhabens um zwei Jahre zu verschieben. Im Mai 2022 war es endlich so weit.
Riesen-Parkhaus, gegenüber die »Feldberg-Passagen« mit reichhaltigem Landjägerangebot. Spezialität: Schwarzwurst und Feldbergle. Noch mehr Bebauungswahnsinn als an der Zugspitze, auf der bekanntlich lediglich H&M- und Zara-Filialen fehlen, Deutschlands höchstes Postamt jedoch nicht. Aber zurück zum Feldberg. Der ist ein unbewaldeter Wiesenbuckel mit Skilift, bis an die Zähne mit Schneekanonen bewaffnet. Bernhard mutmaßt, dass kein Berg im Schwarzwald so hässlich ist wie der Feldberg – aber da wäre ich vorsichtig, uns fehlen die flächendeckenden Ortskenntnisse.
Nach 20 Minuten erreichen wir den Gipfel. Denken wir. Einige Dutzend Vatertagsausflügler beleben das Areal rund um eine hohe Steinpyramide, zu Bismarcks Ehren angehäufelt, und genießen das generöse Panorama. Fast wollen wir wieder zurück zum Parkhaus, als wir entdecken, dass wir uns geirrt haben: Der wirkliche Gipfel befindet sich ein gutes Stückchen entfernt, markiert mit einer Radarstation (heute Deutscher Wetterdienst). Bernhard scheint enttäuscht, will nicht mehr weiterwandern. Unklar, ob er ironisiert. Am echten Gipfel großes Hallo, Fotos mit Fans allenthalben. »Wollen Sie auch ein Bild?«, fragt Bernhard eine Familie, die allerdings aus Frankreich kommt und nicht weiß, warum sie sich mit uns fotografieren lassen soll.
Nach zwei Stunden Wegstrecke haben wir großen Hunger und verzehren die Schwarzwürste mit Pelle. Dass diese eigentlich nicht zum Verzehr geeignet ist, erfahren wir erst am Abend auf der Bühne im Hoftheater Baienfurt, durch Zuruf wurstkundiger Zuschauer. Überlebt; noch acht Gipfel.
Das Navi führt unser Tourneeauto bis auf das Hochplateau, so dass wir zum eigentlichen Gipfel nur circa 50 Meter zurückzulegen haben. Von einer Bergwanderung kann man da gewiss nicht sprechen, nicht einmal von einem Spaziergang. »Sich die Beine vertreten« ist die korrekte Bezeichnung für das, was wir auf 816 Metern Seehöhe tun.
Das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Bauten hält sich an diesem waldigen Buckel die Waage: Da ist ein hölzerner Aussichtsturm, der aber wegen Sturmschäden gesperrt ist, ferner eine Radar- oder Abhöranlage. »Fotografieren verboten, der Objektkommandant« steht am Zaun, also gehen wir für das obligatorische Gipfelfoto rüber zu einer monumentalen, am Boden liegenden Landkarte aus Eisen, auf der mich Bernhard mittig positioniert und anschließend an seinem Handy eine Zeitlupenaufnahme auslöst. Sodann schleudert er das iPhone nach Art eines Hammerwerfers hoch in die Luft, und während es fliegt, erklärt mein Kollege mir, worauf es ankommt: »Die Linse sollte sich möglichst lange und oft orthogonal zur Blickachse des Objektes bewegen. Für die Belichtung ist es manchmal … ups!« Krachend landet der Fernsprecher auf der Metallplatte, Display und Karosserie sind geborsten.
Doch der Ärger währt nur kurz, da uns der Blick auf das Skigebiet und die dahinterliegenden Weiten des Hunsrück-Hochwaldes mit ihren unzähligen Wipfeln und Windkraftanlagen für alles entschädigt. Hinterm Picknickhäuschen registriere ich blühenden Ginster, Lupinen und Giersch, dann steigen wir wieder ein. Noch.
Tourmanagerin Renate chauffiert uns durch Willingen-Upland, und auf den Bürgersteigen tummeln sich die Ausflügler. Vor und hinter uns knattern stramm beleibte, weißhaarige Vollbartrocker auf gelben Harleys mit den Teilnehmern einer Citroën-Oldtimer-Ralley um die Wette. Das nächste internationale Skispringen wird zwar bereits beworben, ist aber noch lange hin. Dennoch ist der Ort pickepackevoll, die Architektur konsequent brutalistisch-bungalowesk. Mit mulmigem Gefühl passieren wir eine Bergrettungswache. Wofür braucht man die hier? Kann es sein, dass wir unser Vorhaben kapital unterschätzen? Drohen uns Absturz, dünne Luft oder doch wenigstens aggressive Wildschwein-Bachen?
Dort, wo der Ort ausfranst und die Landschaft ins Kanadische kippt, steigen Bernhard und ich auf Fußbetrieb um. Aus Asphalt wird Schotter, aus Schotter bald ein schmaler Pfad, der zu einem idyllischen Richtplatz führt. Mindestens so majestätisch wie die gelben Harleys ziehen die Wolkenschiffe überm Grenzweg Richtung Hessen. Kein schlechter Platz, um den Löffel abzugeben. Wir stärken uns mit Fitnessriegeln, Bernhard adjustiert die Zipper seiner brandneuen Trekkinghose, die er am Vormittag in einem Outdoorshop nahe Gießen erworben hat. Elegant stolpern wir über das anmutige Wurzelgeflecht, das den Wanderweg gliedert, und zwischendurch stapfen wir durch grundlose Schlammpfützen, von zahllosen Mountainbikestollenreifen ausgehoben und verquirlt. Bernhards schwere Bergstiefel werden mit den Herausforderungen spielend fertig, meine Sandalen hingegen geraten an gewisse Grenzen, vor allem, wenn der Schlamm sich zwischen Fuß und Sandalensohle setzt und mich zu zeitraubenden Reinigungsbädern zwingt.
Bernhard versucht einem umgestürzten Baum auszuweichen, rutscht dabei aus und fällt mit der Flanke auf einen spitzen Ast. Er schreit schrill und hält sich schnaufend die Wunde. Während er von Schmerzenswellen durchflutet zusammensackt, entsperre ich mein Handy, um notfalls zügig die Bergrettung alarmieren zu können. Ist dann aber doch nicht nötig, es blutet nur fast.
Kurze Erholungsrast an einem ehemaligen Aussichtspunkt mit Liegebank, der zwischenzeitlich zugewachsen ist. Geocaches sind wohl vorhanden, aber allzu gut versteckt, was Bernhards Psyche zusätzlich zusetzt. Weiter, auf zum Gipfel. Am Rande des Weges sitzen zwei niederländische Seniorinnen und pinzettieren sich gegenseitig Zecken aus ihren Waden und Dekolletés. Durch dichten Hochwald streben wir unerschrocken weiter, und da ist sie auch schon, die heimelige Lichtung am höchsten Punkt des volkreichsten Bundeslandes.
Eine Sitzgruppe zum Picknicken, ein stolzes Gipfelkreuz und eine Hängematte heißen uns willkommen, hier, weit und hoch von und über allen Hochöfen, Fördertürmen und Abraumhalden. An diesem Ort, zehn Meter von der hessischen Grenze entfernt, ist NRW ganz lauschig, still und bescheiden. Fernsicht ist nicht vorgesehen, und so kann der Wanderer sich ganz auf den freundlichen Platz und sein Mobiliar konzentrieren. Mein treuer Sherpa, äh, Freund legt sich auf die Holzhängematte und schläft auf der Stelle ein, während ich mich am Gipfelbuch zu schaffen mache, dessen handschmeichlerischer Korkeinband die Strapazen des Aufstiegs rasch vergessen lässt. Ich verfasse einen länglichen Eintrag, plaudere mit einigen Herren in Gore-Tex, die den Upland-Weg in Gänze begehen, dann wecke ich Bernhard. Erneut sucht er erfolglos nach Caches, geht wieder und wieder die Ränder der Lichtung ab, verschwindet manchmal kurz im Unterholz, so dass die anderen Wanderer den Eindruck gewinnen können, er müsse auf Toilette, komme aber nicht zu Potte, warum auch immer.
Schließlich verlassen wir den gastlichen Ort, diesmal via Grenzweg, über hessisches Hoheitsgebiet. Ohne Unterstützung (etwa durch den Hubschrauber der Bergwacht) erreichen wir nach zwei Stunden erneut Willingen und schildern der auf uns wartenden Renate in dramatischen Worten, was uns widerfahren ist. Auch am Abend auf der Bühne in Lüdenscheid spielt Bernhard mit dem Gedanken, seine Rumpfwunde dem Publikum zu präsentieren, vielleicht sogar jeden und jede einmal über den Schorf streichen zu lassen, aber dann nimmt er doch Abstand – der Anblick der Schramme könnte Zartbesaitete in Ohnmacht fallen lassen, und das hält nur auf.
Start in Abtsroda. Über einen schmeichelnden Waldpfad zur »Kasse des Vertrauens«, bei der es sich um ein simples Sparschwein handelt – Kartenzahlung nicht vorgesehen. Davor: eine Viehtränke, die mit drei Getränkekisten gefüllt ist. Selbstbedienung ist Trumpf. Wie gerne besteigt man einen Berg, der einem so viel Vertrauen entgegenbringt! Schade, dass wir noch keinen Durst haben.
Erster Halt am Fliegerdenkmal, zu dessen Einweihung 1923 30.000 Menschen die weitläufige Gipfelwiese besuchten, nicht zuletzt Ausdruck des Protestes gegen den Versailler Vertrag. Über uns gondeln die Segelflieger. Klar, dies ist das Alleinstellungsmerkmal der Wasserkuppe unter den 16 Summits: Sie ist das geistige Zentrum des Fliegens, der Freiheit über den Wolken in Deutschland. Passend dazu der Auftrag der bis zu 800 US-Soldaten, die hier oben im Kalten Krieg den Luftraum überwachten: »Guardian of Freedom«. Gut möglich, dass der Job von den GIs für eher langweilig gehalten wurde – der weite Blick gibt dem Berg ein eher kontemplatives Gepräge. Als Souvenir erwerbe ich ein Schnapsglas mit Segelflugzeuggravur, und anschließend verspeisen Bernhard und ich einen »Fliegereintopf«: Erbsensuppe mit Sauerkraut und Wursteinlage.
Auf der Bühne abends in Fulda erfahren wir, dass wir eigentlich »Flurgönder« hätten essen sollen, das ist ein Schwartenmagen mit Bandnudeln, das klassische Gericht dieser Gegend rund um Himmelfahrt. Eigentlich ist ein Flurgönder kugelförmig, wird aber für den Einsatz als Tellergericht in Scheiben geschnitten. Als man uns am Abend fragt, was wir von Flat-Earthern halten, den Anhängern der Theorie, dass es sich bei der Erde um eine Scheibe handele, versteige ich mich zu der Bemerkung, dass die Erde ein Flurgönder sei, und ich möchte hinzufügen: Schneidet man den Flurgönder in zwei Hälften, erhält man zwei Wasserkuppen.
In Heidersbach schickt uns Renate los Richtung Rennsteig, zunächst auf schmalem Pfad, später auf breiteren Forststraßen. Eine ältere Alleinwanderin erkennt uns bzw. meint uns zu erkennen. »Guten Tag, Herr Pflaume!«, begrüßt sie Bernhard, mich verwechselt sie mit Elton. Wir lassen sie in ihrem Glauben, zumal die Ähnlichkeit zwischen Elton und mir ja tatsächlich frappant ist – wenn man denn nur lange genug genau hinschaut.
Bald erreichen wir »Plänckners Aussicht«, einen Picknickplatz mit Aussichtspodest, der einheitlich gestaltet ist – allenthalben ist das »R« des legendären Rennsteigs ins Bauholz geschnitzt. Der Fernblick gen Süden lädt auch an diesem Tag zum Träumen ein. Plänckners Aussicht ist, so mutmaßen wir, deshalb so umfangreich, einladend und opulent gestaltet, um die Massen der Beerbergbesucher vom Gipfel fernzuhalten, der sich in einem Biossphärenreservat befindet, nämlich in empfindlichem Hochmoor. Da aber niemand guckt und uns kein Schild am Betreten hindert, gehen wir, ganz leise und auf Zehenspitzen, weiter zum Gipfel, der mit einer hochoriginellen Skulptur gekennzeichnet ist: ein hölzernes Dreibein, wie man es zum Befestigen von Suppenkesseln überm Lagerfeuer nutzt, allerdings ohne Topf, dafür mit einer tibetischen Gebetsflagge und einigen kunstvoll miteinander verhakten Langlaufski-Bruchstücken.
Unter allen Gipfelmonumenten der 16 Summits ist dies gewiss die geschmackvollste, auch überraschendste Lösung. Hinter dem Gipfel erstreckt sich das Hochmoor, und durch die weißen, flaumigen Blüten des Wollgrases wähnt man sich unwillkürlich in Louisiana. Ist das da unten nicht New Orleans, fragen wir uns, als wir von Plänckners Aussicht herab einer Stadt gewahr werden? Fast. Es ist Suhl. In einer Geocache-Tupperdose findet Bernhard zwei Mini-Knoppers, die wir zum zweiten Frühstück verzehren, dann verlassen wir den verwunschenen Ort und reisen weiter.
Hier ist alles auf Hexen getrimmt. Wir beginnen unsere Harzreise an der Talstation des Hexenrittlifts beziehungsweise des Hexenexpress-Lifts und steigen, äußerst profan, die Skipiste hinauf. Von derartigen Begehungen hörte ich erstmals durch Kurt Felix, Gott hab ihn selig, dessen Wanderkarriere mit Pistenbegehungen endete, zumeist in Begleitung von Paola. Bei Karl Dalls 60. Geburtstag, kurz nach der Jahrtausendwende, erzählten mir die beiden ausführlich von ihren sportlichen Vorlieben, und ich war hingerissen. Zum Beispiel hatte Kurt Felix über viele Jahre alle Autobahnteilstücke der Schweiz abgeschritten, in der Nacht, bevor sie dem Verkehr übergeben wurden. Im Gotthardtunnel hatte dies zu einem polizeilichen Großeinsatz geführt, weil die Exekutive im »Verstehen Sie Spaß«-Moderator einen Rowdy oder gar Terroristen vermutete.
Einige hundert Meter weiter oben wartet die »Wurmbergalm« auf uns, eine Restauration nebst Turmrutsche und benachbarter Ausgrabungsstätte. Archäologen stießen hier auf rätselhafte Artefakte, man dachte an kultische Stätten der Steinzeit, auch ein Hexentanzplatz wurde durchaus nicht ausgeschlossen. Zur allgemeinen Überraschung stellte sich dann heraus, dass es sich um die Grundmauern einer Hütte aus der Mitte des letzten Jahrhunderts handelte. Ähnlich wie auf der Wasserkuppe übermannen mich auch an diesem Ort die Erinnerungen an meine Kindheit. Beim Anblick des Brockens auf der anderen Seite der Zonengrenze werden jene Bilder wieder wach, die ich als Dreikäsehoch archivierte, allerdings in einem Hinterstübchen, das jahrzehntelang unkonsultiert blieb. Jetzt, plopp, ist alles wieder präsent, und eine warme Woge des Glücks durchrollt mich, als mir erneut klar wird, wie schön es doch ist, dass aus dem Todesstreifen, der Deutschland teilte, ein Wanderweg geworden ist, das »Grüne Band«.
Allerdings ist dieses Band momentan mitnichten grün, weil der Wald hier im Harz tot ist – jedenfalls sieht es für uns Laien so aus. Nicht einzelne Fichten liegen quer, sondern ganze Baumgruppen sind mitsamt den darunterliegenden Flurstücken umgekippt. Alles ist grau-braun, und das Tuut-tuuut der Brockenbahn klingt wie der Ruf eines gespenstischen Uhus, der umherfliegt, um die Apokalypse zu verkünden. Von kalten Schauern erfrischt, gehen wir weiter, den nahe gelegenen Brocken im Visier.
Immer wieder bleiben wir kopfschüttelnd stehen, studieren das ungewohnte Landschaftsbild und assoziieren unbeholfen »Hartz 4«. Auf Schautafeln werden wir belehrt, dass der Wald keineswegs tot sei, sondern lediglich im Umbruch. Gewiss, zwischen den Abertausenden Baumleichen, niedergemetzelt von Dürre und Borkenkäfer, sprießt das neue Leben, und wir hoffen, dass alte Fehler nicht erneut begangen werden, nämlich die Vorliebe für monokulturellen Fichtenanbau, um schnelle Rendite zu erzielen. Welche Baumarten in den veränderten klimatischen Bedingungen gedeihen, werde ich erst in einigen Jahren sehen – wenn es mich eines Tages wieder ins Reich der Rothaarigen führt.
Auf dem Hexenstieg mit seinen granitenen Großkieseln stoße ich mit meinen Laufsandalen (»Shamma Mountain Goat«) an gewisse Grenzen, aber ich lasse mir meine durchaus riskante Schuhwahl nicht anmerken. Alles puppig, flunkere ich Bernhard an, der wie immer in seinen schweren Bergstiefeln unterwegs ist. Bald überholen wir Klassen aus Brennpunktschulen. »Ich geh Bahnhof!«, höre ich heraus, und auch wir passieren bald die Gipfelstation der Brockenbahn und staunen über den majestätischsten Blick, den Norddeutschland zu bieten hat. Alles ist hier oben wuchtig und groß: die zum Hotel umgebaute NVA-Abhörstation, der obelixsche Felsen, der per schwerer Metalltafel völlig zurecht als »Brocken« markiert ist, ferner die Denkmale für Goethe, Heinrich Heine und Brocken-Benno, den inzwischen 90-jährigen Rekordwanderer, der den Brocken unfassbare 9000-mal bestiegen hat.
Es windet kräftig, genauso, wie es sich gehört, und als ich auf Social Media ein Selfie in kurzen Hosen poste, wird mir prompt bleierne Lebensmüdigkeit nachgesagt. In der kantinenhaften Gipfel-Klause fädeln wir uns in die Essensausgabe ein (Sülze mit Bratkartoffeln) und verlangen nach Brockenhexen-Flugbenzin. Schade, das gibt es nur im Souvenirladen, und der hat zu. Ersatzhalber erwerbe ich vom Schaffner auf der Talfahrt in der Brockenbahn ein Fläschchen Bahnerschluck, ehe wir am Abend durchaus beschwingt die Bühne in Wernigerode erklimmen. Tagesfazit: Der Brocken ist der gewaltigste, am meisten einschüchternde aller besuchten Berge, von der Zugspitze mal abgesehen – und das liegt zum einen an seiner breitschultrigen Monumentalität und zum anderen am Zustand des Waldes.
Gar lieblich liegen die Kmehlener Berge hinter Groß-Kmehlen, auf halbem Wege zwischen Finsterwalde und Dresden, just an der Grenze zu Sachsen. Die Anfahrt ist lang und umständlich und bietet Renate, Bernhard und mir reichlich Gelegenheit zur Diskussion der Frage, welchen Berg wir überhaupt besteigen sollen: den Kutschenberg oder doch lieber die benachbarte Heidehöhe? An ihrer Flanke liegt der höchste Punkt Brandenburgs, 40 Zentimeter höher als der Kutschenberg. Der Gipfel der Heidehöhe liegt allerdings in Sachsen. Was tun? In Nerd-Kreisen ein umstrittenes Thema.
Wir entscheiden uns für den Kutschenberg, ich nehme mir aber vor, bei Gelegenheit auch die Heidehöhe nachzutragen, um mir nur ja keine sammelalpinistischen Blößen zu geben. Am Wanderparkplatz hinter Groß-Kmehlen schickt uns Renate auf die Reise, und wir durchschreiten ein einsames Tälchen bis zum Talabschluss, just wie in den Alpen, allerdings im Format einer Faller Modellbaulandschaft und bedeutend flacher. Blau blühen die Kornblumen, passend zum Himmel und meiner Wanderkrawatte. Nach einem Viertelstündchen, wenn überhaupt, gelangen wir auf eine Anhöhe, von der aus man das Westlausitzer Bergland bei den Lebkuchenstädten Kamenz und Pulsnitz mit dem 413 m hohen Keulenberg überblickt, der höchsten Erhebung zwischen Dresden und Norwegen.
Aufgekratzt plappernd genießen wir die Stille, es ist dies mit Abstand der entlegenste, einsamste, märchenhafteste Ort unter den deutschen Großbergen. Niemand begegnet uns, auch nicht, als wir uns auf schmalem Waldpfad dem Gipfel nähern, der mit einer schlichten Stele markiert ist. Bernhard ergoogelt, dass man von einem Mittelgebirge ab 200 Meter Höhe spricht. Der Kutschenberg ist einen Meter höher, und sogleich argwöhnen wir, dass sich ein lokaler Touristikmanager mit einer Schaufel am Berg zu schaffen gemacht haben könnte – ein Gedanke, den wir allerdings sogleich wieder verwerfen, zumal weit und breit keine Spuren von Massentourismus zu sehen sind, nicht einmal von vereinzelten Besuchen.
Bergab geht’s auf erstaunlich steilem Pfad, vorbei an einer heimeligen Skihütte. Verstehe, hier frönt man dem Wintersport! Ich werde darauf zurückkommen, eines Tages, wenn die Schneelage taugt. Und mit den wärmsten Glücksgefühlen wandern wir zurück zu unserem Ausgangspunkt und lassen uns auf einer Parkbank nieder. Wir vergessen fast weiterzufahren, zum Auftritt nach Dresden, so schön ist es hier.
Start am Parkplatz in Oberwiesenthal. Wieder lacht die Sonne, und auch wenn es regnete, wäre ich in Paradestimmung, denn heute wird der Sack zugemacht, heute wird meine 16-Summits-Sammlung komplettiert, sofern uns nicht auf den letzten 250 Höhenmetern ein Bänderriss, ein Tornado oder eine Wolfsattacke daran hindert. Erst mal ein halbes Stündchen Bergwanderweg, dann links auf der Skipiste hinauf, so wie bereits am Wurmberg. Kaum fließt der Schweiß, erkennen wir über uns auch schon den Turm des Fichtelberghauses, und ich gerate in überschwängliche Siegerlaune. Der Fichtelberg gehört zu jenen Erhebungen, deren Gipfel bauliche Verzierungen aufweisen, und zwar reichlich. Und dort, wo nicht Hütten, Häuser, Türme und Aussichtsplattformen den Ankömmling aufzunehmen bereit sind, wurden geschnitzte Tierskulpturen aufgestellt, Frosch, Bär und Giraffe im Kopfstand, nein, ich korrigiere, bei Letzterem handelt es sich lediglich um eine urige Skulptur mit Wegweiser-Funktion. Mit einem beherzten »Glück auf!« betreten wir nach den obligatorischen Gipfelfotos den Schankraum einer Gastwirtschaft und dürfen unsere Schnapssammlung um zwei Büddelchen »Himmelsleiter Pfortengeist« ergänzen. Prosit! Auf die Bergwelt, egal ob hoch, höher oder Bremen! Wir haben’s geschafft, bzw. ich, Bernhard muss noch eine knappe Handvoll Gipfel nachtragen. An Motivation wird es ihm nicht mangeln, ich habe ihn gründlich angefixt.
Und nach Soljanka und Kesselgulasch fliegen wir geradezu über den schnurgeraden »Wanderweg der deutschen Einheit« zur Loipen-Baude und weiter zur tschechischen Grenze, wo uns Renate mit dem Auto aufliest.
Fünf Jahre nach der Ideenfindung ist es vollbracht, und ich reihe mich ein in den exklusiven, elitären Kreis der 16-Summits-Bezwinger, der eventuell kleiner ist als jener der 7-Summits-Helden, auf jeden Fall jedoch bedeutend kleiner als die elitärsten mir bekannten Vereine, der Club der Intelligenz etwa, ganz abgesehen vom Rat der Wirtschaftsweisen oder dem Präsidium der CDU.
Wenn man die Gesamtstrecke aller Gipfelstürme addierte, käme man auf eine erkleckliche, aber keineswegs imposante Wegstrecke – so gesehen dürfte dies meine mickrigste sportliche Großunternehmung gewesen sein, gleichzeitig aber jene mit den umständlichsten Anfahrtswegen. Aber was soll ich mich beschweren? Rum wird auch nicht an einem Tag gebraut.
Wer zu diesem Thema (also den 16 Summits, nicht der Rumherstellung) Karten, Routen, Kilometer- und Höhenmeterangaben sucht, besorge sich das ausführliche Kompendium »Zippert steigt auf« von Hans Zippert, dem begnadet lustigen Autoren der »Welt«-Glosse »Zippert zappt«.
GEWINNSPIEL
Mit Bergführerin übers Höllental
auf die Zugspitze
Die Zugspitze ist Bayerns höchster Gipfel und auch »Top of Deutschland«. Ihre Besteigung über das Höllental ist eine alpinistische Herausforderung mit Klettersteigpassagen (mehr erfährst du in ↗ »5 Wege auf die Zugspitze«).
Zusammen mit der Ferienregion ZugspitzLand verlosen wir eine Besteigung der Zugspitze. Mit Guide Cat Juhran besteigt ihr Deutschlands höchsten Gipfel durchs Höllental. Damit ihr Zugspitze und Co. richtig genießen könnt, gibt es drumherum noch zwei Übernachtungen im nagelneuen Explorer Hotel (Eröffnung im Oktober 2022) in Farchant.
Oberau, Eschenlohe und Farchant bilden die Region Zugspitzland mit den mächtigen Bergpanoramen des Estergebirges und Wettersteinmassivs.
Insgesamt bietet die Gegend um Eschenlohe, Oberau und Farchant ein 280 Kilometer langes Wegenetz an einfachen Wanderwegen.
Im Oktober 2022 eröffnet das zehnte Explorer Hotel in Farchant.
Dunkler Keller war gestern. Im Explorer Hotel schraubst Du am Bike und wachst Deine Ski mitten in der lichtdurchfluteten Lounge.
Das einzige, was du tun musst, ist einen der 16 Summits zu besteigen und uns ein Beweis-Gipfelfoto zu schicken.
Sende dieses Foto zusammen mit deinem vollständigen Namen, deiner Telefonnummer und einer kurzen Selbsteinschätzung deiner Summit-Fähigkeit an redaktion@globetrotter-magazin.de. Der Einsendeschluss ist der 15. November 2022. Der Gewinner wird zwischen allen Einsendungen mit »verifiziertem« Gipfel-Beweisbild gelost.
Es gelten die ↗ Allgemeinen Gewinnspielbedingungen.
TEXT & FOTOS: Wigald Boning