In all diesen Jahren hatte ich nur eine vage Vorstellung von der riesigen Landmasse, die ich mithilfe des Wortes Afrika so drastisch vereinfachte. Auch wenn es mir nicht bewusst war, sprach ich lange Zeit über den Kontinent, als wäre er nur ein großes, imaginäres Land.
Je mehr ich mich mit Afrika beschäftigte, desto deutlicher wurde mir, dass meine verqueren Vorstellungen nicht nur meinem jungen Alter geschuldet waren. Auch in der Schule und in den Nachrichten werden vor allem Stereotype reproduziert: der Sonnenuntergang in Afrika – immer rotglühend. Die Ursprünglichkeit der Savannen und Urwälder, der Wiege der Menschheit. Die tiefe Erkenntnis, die nur in der afrikanischen Wildnis gefunden werden kann, etwa beim Blick in die Augen eines weisen Elefanten. Oder, wenn es politischer sein darf: keine Bildungsmöglichkeiten, aber dafür Hunger, Korruption und Gewalt – die ewig gleichen Bilder. All diese Klischees und Vorurteile üben große Anziehungskraft aus. Dominieren im eigenen Denken die negativen, dann ist es leicht und scheinbar legitim, den Kontinent zu verteufeln.
Verfällt man aber in Schwärmereien, dann trifft der positive Sog auf den Zeitgeist und verspricht Selbstfindung: Denn wo kann man sich selbst besser erkennen als unter dem weiten Himmel Afrikas, wo besser seinen eigenen Weg finden als im Rhythmus der afrikanischen Seele? Wo kann man noch echte Abenteuer erleben, und so handfest den Ärmsten der Armen helfen? Nach und nach verstand ich, wie wenig ich wusste und wie wenig Respekt ich den Menschen und Kulturen dort durch diese extremen Vereinfachungen entgegenbrachte.
It’s Kili Time
2010 buchte ich kurz nach meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag endlich ein Flugticket. Der Plan: einen Monat lang mit dem Rucksack durch Tansania reisen. Und weil ich zu diesem Zeitpunkt etwas Erhabenes brauchte, entschied ich mich außerdem dafür, zum ersten Mal in meinem Leben einen hohen Berg zu besteigen, den Kilimandscharo. Vielleicht würde ich von dort aus klarer sehen.
Die Angst vor einem möglichen Scheitern beschäftigt mich lange. Ich stelle mir die Verzweiflung vor, die ich aushalten muss, bevor ich mich für einen vorzeitigen Abstieg entscheide. Und schaffe ich es überhaupt noch hinunter, wenn ich bereits so erschöpft bin, dass ich aufgeben will?
Am Berg schmeckt die Luft nach Champagner. In der Nacht schicken hoch über mir die Sterne millionenfach ihr Licht auf die Welt hinab. Weit hinten, am dunklen Horizont, jagen Blitze über die Steppe, das Wetterleuchten und ich sind mittendrin.
»Die Welt zeigt mir nicht, dass ich klein bin. Vielmehr, dass alles um mich herum riesengroß, gewaltig, zeitlos ist.«
In kleinen Momenten raucht die Erhabenheit der durch mich hindurch. In der Gipfelnacht quäle ich mich Stück für Stück, ganz langsam, die letzte Etappe hinauf zum Uhuru Peak – der höchsten Erhebung Afrikas auf 5895 Metern. Mich überwältigt keine plötzliche Euphorie, dafür geht es mir viel zu schlecht.
Erst zu Hause wird mir wirklich bewusst, dass ich die Bergbesteigung für mich und meinen Stolz brauchte, aus ganz egozentrischen Gründen. Einige Situationen am Berg muss ich überdenken. Habe ich mich neokolonialistisch verhalten? Warum war es mir so wichtig, auf diesem Gipfel zu stehen?
Wirklich interessant wäre es gewesen, wenn ich kurz vor dem Gipfel umgekehrt wäre. Wenn mir die Landschaft, dieses unfassbare Szenario, das mich seit Sonnenaufgang begleitet, genügt und ich aus freien Stücken auf das Gipfelfoto vor dem hölzernen Schild verzichtet hätte. Wenn ich mich weder für das Scheitern noch für den Erfolg entschieden hätte, sondern für etwas dazwischen. Das Erreichen des Gipfels erlaubt mir nur in großspuriger Manier zu sagen: Ich habe es geschafft! Zum Beweis ein Foto, statt Flagge.
Ich habe nicht darauf geachtet, ob die Träger vernünftig ausgerüstet sind. Ich habe damit in Kauf genommen, dass ein Mensch sein Leben verwirkt. Drei Mal so viele Einheimische wie Touristen sterben am Berg aus Gründen, die vermeidbar wären. Es wäre ebenfalls meine Aufgabe als verantwortungsvolle Kundin gewesen, sicherzustellen, dass die Menschen, deren Dienste ich in Anspruch nehme, einen akzeptablen Lohn dafür bekommen. Vielleicht gelingt es mir, bei meiner nächsten Reise achtsamer zu sein. Ich hoffe es sehr, ich strenge mich an.
Viele Reisen durch Angola, Gabun, Kenia, Madagaskar, Malawi, Mosambik, Ruanda, Sambia, Simbabwe, Uganda und Tansania folgten.
In den meisten Momenten, die ich erlebte, war ich glückselig, berührt, befreit, nachdenklich, traurig, manches Mal auch gelangweilt. Viele Menschen zu Hause fragten mich immer wieder nach der Sicherheit in diesen Ländern. Und ich kann nur sagen, dass ich in über zehn Jahren, die ich auf dem Kontinent gereist bin, nur ein einziges Mal echte Angst verspürt habe.
Im Dschungel von Gabun
Im Loango Nationalpark gehen Timon und ich mit zwei ausgebildeten Guides, Ziko und Franc, durch den Dschungel und erreichen nach etwa 8 Kilometern das Meer. Ein heftiges Gewitter ist aufgezogen und wir müssen am Strand zurück zum Boot laufen, das uns durch eine Lagune zurück zur Unterkunft bringen wird. Wir hoffen darauf, Tieren am Strand zu begegnen, die sich am Nachmittag in den Wellen des Meeres abkühlen wollen.
Triefnass waten wir durch den matschigen Streifen Wiese, der den Strand vom Regenwald trennt. Nach ein paar Minuten erscheinen Buschschweine auf der Wiese, wir kauern uns hin und beobachten, wie sie fressen, während das Unwetter noch immer über uns wütet. Wir marschieren weiter, immer wieder wechseln wir zwischen Wiese und Strand. Die nassen Sachen erschweren das Gehen im Sand. Ich bin schon müde und falle auf einem glitschigen Felsen längs hin, mein Kopf tut weh, doch außer ein paar Schürfwunden geht es mir gut. Mein Körper hat sich jetzt langsam an den kalten Regen und den Wind gewöhnt, der über das Meer zum Land fegt.
Abrupt bleibt Ziko stehen und deutet mit dem Finger auf den nur wenige Meter entfernten Waldrand. Ein riesiger Elefantenrücken kommt zum Vorschein; Blätter rascheln, er frisst, hat uns noch nicht entdeckt. In gekrümmter Haltung schleichen wir näher heran, Ziko und Franc wollen herausfinden, ob es mehrere Tiere sind. Zwischen den Ästen blitzen unerwartet riesige Stoßzähne auf, mein Herzschlag setzt aus. Ansteigende Panik befällt mich. Ich will weg! Ziko und Franc tuscheln. Ich schaue Ziko fragend an, während sich Franc von unserer Gruppe löst und weitergeht. »Wir müssen schauen, wie der Elefant reagiert, er könnte aggressiv sein. Franc will austesten, was passiert, wenn er uns bemerkt.«
Die Worte steigen lose in die Luft, mein Puls beschleunigt sich. Franc steht nun etwa fünfzehn Meter voraus und gibt Ziko ein Zeichen. Wir kauern immer noch in unserer Position und warten. Franc schleicht sich noch ein Stückchen weiter am Elefanten vorbei. Und dann ist es zu spät. Der Wind dreht.
Plötzlich brechen mammutähnliche Stoßzähne, kleine stechende Augen und der massige Körper aus dem Dickicht hervor, ein Gigant aus einer anderen Welt erscheint. Er riecht Franc, jetzt auch uns und schlägt mit seinen Ohren bedrohlich hin und her. Er zögert nicht, stürmt uns entgegen.
»Dann höre ich das Wort, vor dem ich am meisten Angst habe: Rennt!«
In Zeitlupe dreht sich mein Kopf vom Elefanten weg zum tobenden Meer, von dem wir hoffen, dass es den Elefanten abschrecken wird. Dazwischen liegt eine Menge Sand, der Elefant ist zu nah, denke ich, und renne. Der Elefant dicht hinter uns.
Ich spüre, wie der Sand unter meinen schweren nassen Boots nachgibt, ich komme kaum vorwärts – vier Menschen versuchen, auf dem kürzesten Weg in die vermeintlich rettenden Wellen zu laufen, jeder rennt um sein Leben. Der Strand ist plötzlich so breit, das Meer so weit weg. Im Augenwinkel sehe ich, wie Ziko mit seiner Machete in den Sand fällt. Franc reagiert und schreit den Riesen aus Leibeskräften an. Der Elefant visiert ihn und schleudert Sand mit seinem Rüssel. Er weiß nicht, auf wen er sich fokussieren soll. Das ist Zikos Rettung. Er springt auf und läuft weiter. Meine Beine sind schwer, ich bin noch immer nicht im Meer. Das Blut rauscht durch meinen Körper, es vermischt sich mit dem Rauschen des Meeres.
Mein Herz dröhnt, es donnert in mir und über mir. Ich kann es nicht fassen, dass ich in diese Situation geraten bin, es nicht begreifen. Warum sind wir darauf nicht vorbereitet?
Meine Füße berühren den schäumenden Ozean, hohe Wellen peitschen mir entgegen. Ich blicke zum Strand, ich sehe keinen reglosen Körper und beginne wieder zu atmen. Vor uns im Sand bäumt sich der Elefant auf, das sonst so sanfte Tier ist im Todesrausch. Es will sich nicht verteidigen, es will töten. Ziko und Franc imitieren mit Handbewegungen einen Elefantenrüssel, sie brüllen und schreien, der Elefant tänzelt im Sand, haut seine Stoßzähne tief in ihn hinein und keiner weiß, was geschehen wird.
Zwar ist der Elefant jetzt bis zur Wiese zurückgewichen, doch seine wütenden Augen starren uns an. Ich atme für einen kurzen Augenblick auf, bevor ich verstehe: Der Kampf ist noch nicht vorbei.
Da das rettende Boot an der Mündung wartet, an der die Lagune das Meer berührt, haben wir keine Wahl, wir müssen weiter geradeaus. Doch der Elefant verfolgt uns parallel zum Ufer. Immer wieder versuchen Franc und Ziko, den Riesen zu vertreiben. Der Blick voraus sagt uns nämlich, dass die Eskalation näher rückt, das Horrorszenario nicht enden will. An einer Kuppe in der Ferne wird der Weg des Elefanten mit unserem Weg zusammentreffen, Wiese und Strand werden eins. Ich habe den Kampf gegen die Tränen jetzt aufgegeben, leise und unauffällig gleiten sie ins Meer hinab. Immer wieder bleibe ich stehen, will es hinauszögern, doch der Elefant kommt unweigerlich näher, wir sind gefangen auf einem Streifen Sand.
Timon und ich stehen gerade so tief im Meer, dass wir noch nicht schwimmen müssen, wir springen mit den Wellen hoch. Franc sucht hektisch etwas in seinem Rucksack. Der Zusammenstoß kann nun nicht mehr abgewendet werden, wir sind fast an der Kuppe. Dann geht es los: Der Elefant bäumt sich erneut auf, Franc und Ziko stehen wenige Meter voneinander entfernt und schreien ihn mit letzter Kraft an. Das Tänzeln beginnt von Neuem. Wenn der Elefant noch einen Schritt näher kommt, gibt es mindestens einen Toten. Da zieht Franc eine Trillerpfeife aus seinem Rucksack hervor und holt tief Luft. Das hohe Geräusch zerschneidet den Sturm, das Gewitter, das Meeresgetöse und lässt unseren Gegner verwirrt innehalten. Er kann das Geräusch nicht einordnen, es wird ihm zu heikel, er dreht ab und lässt uns gewähren, einfach so. Das war’s.
Es gibt keine Freudenschreie, nur ein leises, scheues Aufatmen. Wir gehen stumm zu unserem Boot und klettern hinein. Ich gebe Ziko und Franc die Hand, ich habe das Bedürfnis nach einer körperlichen Berührung. Sie haben unser Leben verteidigt, sich schützend vor uns gestellt, doch werden Blicke vermieden. Franc hebt schließlich die Trillerpfeife hoch und flüstert: »Es war meine letzte Verteidigung.«
Im Nachhinein bleiben viele Fragen: Waren wir leichtsinnig oder hatten wir großes Pech?
»Haben wir überhaupt ein Recht darauf, in den Lebensraum der Tiere einzudringen?«
Die Fragen lassen sich nicht klar beantworten. Alles, was ich weiß, ist: Ziko und Franc sind Menschen, die ihr halbes Leben dem Naturschutz gewidmet und sich wertvolles Wissen angeeignet haben. Das, was diese zwei Männer hier tun, ist kein Job, sondern eine Philosophie, eine Lebenseinstellung.
Die Reise ist noch nicht vorbei
Auch zukünftig werde ich mich auf den Weg machen, um mehr über diesen Kontinent herausfinden. Um in Klischees einzutauchen, aber auch um zu überprüfen, ob ich die kleinen und großen Unterschiede erkenne, die die afrikanischen Staaten ausmachen – so wie ich sie auch in Europa beobachte.
Ich will selbst erfahren, wie das Essen auf dem Nachtmarkt von Stonetown auf Sansibar schmeckt, wie die Stimmung in einem vollkommen überfüllten Minibus oder einem einheimischen Pub ist. Ich will sehen, wie die gelbe Welt der Namib-Wüste im Sonnenlicht strahlt oder wie es sich anfühlt, im Regenwaldgürtel des Äquators zu wandern, die tropische Luft zu atmen und hinter jedem Rascheln einen Waldelefanten oder Flachlandgorilla zu vermuten. Ich will wissen, wie wuselig die Städte und still die Ebenen sind – ja, ob ich diese sagenumwobene Freiheit verspüre, wenn der Sonnenuntergang, selbstverständlich rotglühend, die Savanne verfärbt. Vor allem möchte ich die Menschen kennenlernen, die die Länder Afrikas bewohnen. Von ihnen an die Hand genommen werden, Einblicke in ihr Leben bekommen, Freundschaften schließen, gemeinsam lachen und weinen. Aber auch ergründen, wie die Jahrhunderte des Kolonialismus ihr Leben noch immer beeinflussen, und die Verantwortung verstehen, die daraus für mich erwächst.
Die übernommenen Bilder ersetze ich durch eigene Erfahrungen und Erkenntnisse und erschaffe ein realitätsnäheres Bild. So vielfältig und bunt, schön und erschütternd, ähnlich und grundverschieden sind die Erlebnisse, Menschen und Länder, die ich bereise, dass ich weiß: Afrika ist kein Land.
Jennifer McCann lebt und arbeitet in ihrer Heimatstadt Hannover als Lehrerin und Autorin. Ihr erstes Buch Reisedepeschen aus Bolivien und Peru erschien 2019. Unterwegs auf oft ungewöhnlichen Routen und in lokalen Verkehrsmitteln reizen sie besonders die ungeplanten Begegnungen und Abenteuer, die sie mit den eigenen Vorurteilen und Klischees konfrontieren.