Die ersten Wachtürme kommen in Sicht, als wir am vierten Tag unserer Ost-West-Radtour aus dem thüringischen Ifta herausrollen und auf die ehemalige innerdeutsche Grenze zusteuern – hier war unsere Heimat noch vor 30 Jahren durch Stacheldraht geteilt. Beim Gedanken an die Wachposten, die mit Maschinengewehren jahrzehntelang oben in diesen Türmen die Grenze im Auge behielten, läuft es mir kalt den Rücken runter. Ja, noch vor 31 Jahren wären wir an dieser Stelle wohl mindestens festgenommen, wenn nicht gar erschossen worden. Doch wir rollen einfach über das Grüne Band hinweg, als hätte es nie eine gegeben, unsere einzige Konzentration gilt der knackigen Steigung, die zur Grenze hochführt – was für ein Privileg. Simon, groß geworden im westfälischen Iserlohn, und ich, im sächsischen Dresden geboren und aufgewachsen, lernten uns in Baden-Württemberg kennen und wohnen nun wieder in meiner ostdeutschen Heimat. Eigentlich könnte man uns daher als Symbol der neuen Freiheit, die wir durch die Wiedervereinigung genießen, sehen – als die idealen Vertreter dieses Landes ohne innerdeutsche Grenze und ohne Teilung.
Plan C und der Urlaub vor der Haustür
Unseren ursprünglichen Urlaubsplan für dieses Jahr, uns Dänemark als Bikepacker zu erradeln, mussten wir aus aktuellen Gründen leider schnell verwerfen. Eine Radtour im eigenen Land scheint uns dieses Jahr als perfekte Alternative dazu, können wir doch den sportlichen Anreiz einer Radtour, die Freude des Unterwegsseins und dazu noch einen Besuch bei Simons Eltern optimal miteinander verbinden. Etwas zwischen 500 und 600 Kilometern sind das, klingt auch ohne großes Training machbar innerhalb von einer Woche.
Da wir beide seit März begeisterte Gravelbiker sind, war uns schnell klar, welchen Ansatz wir bei der Tour verfolgen wollen. Leicht und wendig soll es sein! Dazu ist Hochsommer, man braucht nur wenig Gepäck, kann sich gut auf ein Minimum reduzieren, um schön leicht unterwegs zu sein – genau das, was Bikepacking ausmacht!
Die Entscheidung fiel auf die wasserdichte Bikepacking-Radtaschenkombi von Ortlieb inklusive Lenker-, Sattel- und Rahmentasche. Ergänzt wurde das Ganze durch eine kleine Gepäckhalterung sowie einen Flaschenhalter an der vorderen Gabel und einen leichten Tagesrucksack, den wir uns teilen. Sich so einzuschränken, ist für uns als komfortorientierte Outdoorer erstmal ungewohnt und lässt ordentlich die Köpfe rauchen. Doch schnell stellt sich heraus, dass die Taschen mehr Platz bieten als angenommen, wir bekommen alles wunderbar unter. Sogar kleine Gimmicks wie eine italienische Espressokanne wandern ins Gepäck. Wenn eines auf einer Tour gerade für Simon nicht fehlen darf, dann wohl guter Kaffee! Dennoch ist das Achten auf ein geringes Packmaß der Ausrüstung beim Bikepacking das A und O, weshalb wir einige Ausrüstungsgegenstände gegen kleinere, leichtere eingetauscht haben (z.b. Therm-a-Rest NeoAir XLite statt Prolite Plus).
Gegen eine detaillierte Tourplanung haben wir uns diesmal entgegen unserer normalen Gewohnheiten bewusst entschieden – drei Radkarten müssen genügen. Die uns vorgegebene Richtung, einmal horizontal westwärts, macht die Orientierung ja eigentlich ganz einfach. Nur der Start in Dresden und das Ziel in Iserlohn bei Dortmund stehen fest.
Es geht los! Der Westen ruft!
Nun stehen also die bepackten Räder vor uns, es kann endlich losgehen! Über den wunderbaren, aber gerade ziemlich hochfrequentierten Elberadweg entfernen wir uns rasch vom Trubel der Stadt und sind froh über ein entspanntes Warmrollen an unserem ersten Tag. Etwas welliger wird es erst, als wir den Elberadweg hinter Meißen Richtung Mulde-Elbe-Radweg verlassen, dem wir bis Döbeln folgen. Wir bekommen eine erste Idee davon, was uns bevorsteht. Im Herzen Sachsens schlängelt sich der Muldetalradweg herrlich idyllisch durch die Landschaft. Dank der guten Beschilderung kommen wir super voran, die Sonne brennt vom Himmel und der Schweiß fließt in Strömen. Dann endlich – geschafft!
Der Campingplatz Landidyll in Bad Lausick bietet uns heute nach den ersten hundert Kilometern eine gemütliche und ruhige Unterkunft, auf der Streuobstwiese dürfen wir unser Zelt im Sonnenuntergang aufschlagen. So haben wir uns das vorgestellt! Der Vorteil daran, so zivilisationsnah und mit einem gewissen Radius unterwegs zu sein: gekühlte Getränke sind immer irgendwie erreichbar, und diese gönnen wir uns auch hier reichlich, um den Abend gemütlich ausklingen zu lassen.
Industrieller Strukturwandel und liebliche Natur
Tag zwei führt uns südlich von Leipzig durch die vom Tagebau gezeichnete wasserreiche Landschaft schnurstracks Richtung Sachsen-Anhalt. Der Wandel von schmutziger Industrie früher hin zur lieblichen Landschaft heute wird uns live vor Augen geführt. Wir rollen über mal weniger und teilweise auch mal recht stark befahrene Landstraßen in Richtung Industriestandort Zeitz.
So richtig Spaß macht das wenig, allerdings stehen auch schnell einige Kilometer auf der Uhr – der Preis einer eher vagen Tourenplanung.
Auf unserer Ost-West-Radtour mit so einem begrenzten Zeitrahmen müssen wir nun einmal den Spagat zwischen effizientem Vorankommen und schönen, gemütlichen Radwegen schaffen. Diese Herangehensweise ist uns aber von vergangenen langen Wandertouren schon bestens vertraut. Richtig entspannt wird es dann aber, als wir auf den Unstrut-Radweg einbiegen. Die Weinberge kommen in Sicht, die Ausschilderung ist top – so muss es sein. In Naumburg rufen Eis, Pizza und alkoholfreies Bier, bevor es auf die Zielgerade Richtung Nebra geht. Auf der beschaulichen Zeltwiese des überaus empfehlenswerten Kanuverleihs in Karsdorf neigt sich der mit gut 112 Kilometern längste Tag unserer Radtour dem Ende.
Vorwärts immer – der Gravel-Express rollt
An Tag drei ist es soweit: der Hintern ruft nach Pause, doch die bleibt ihm erstmal verwehrt. Einige längere Trainingsausfahrten vorher wären vielleicht doch gar nicht so verkehrt gewesen. Mehrere Tage hintereinander mit jeweils über 100 km kosten den Körper doch einige Körner, das wird spätestens jetzt klar. Nun heißt es mentale Stärke mobilisieren und Zähne zusammenbeißen. An der berühmten Himmelsscheibe vorbei, rollen wir durchs thüringische Niemandsland nördlich von Erfurt, bis auf ein paar Abschnitte erst einmal weiter dem Unstrut-Radweg folgend. Pünktlich, kurz nach Grenzübertritt nach Thüringen, dürfen wir uns mit einer lokalen Rostbratwurst vom Holzkohlegrill aus einer Bude am Straßenrand stärken – perfekt! Rückblickend ist der Unstrut-Radweg unser liebster Tour-Abschnitt. Hier würden wir definitiv noch einmal herkommen, egal ob mit dem Rad, Kanu oder dem SUP. Er war wenig frequentiert, schön flach und abwechslungsreich. Vor allem das fast auenhafte Unstruttal zwischen Großvargula und Nägelstedt bietet zuletzt nochmal ein echtes Highlight und sogar noch etwas Gravelweg für uns. Wie es sich für einen richtigen Urlaub gehört, gönnen wir uns nach abermals über 100 Kilometern ein Hotelzimmer und ein opulentes Mahl beim Italiener in Bad Langensalza, wo wir den lauen Sommerabend ruhig ausklingen lassen.
Das Wetter ist kaputt am vierten Tag
Der Tag heute hat für unsere bereits gut geschundenen Körper einiges zu bieten. Nicht nur beginnt der Tag mit Regen, nein, auch das Flachland haben wir nun endgültig hinter uns gelassen. Nach einem extrem zähen Start – die Beine wollen einfach nicht so recht und das Wetter tut sein Übriges dazu – wartet ein besonderes landschaftliches Sahnestück auf uns. Rasant rollen wir durch den bekannten Nationalpark Hainich hinunter ins Werratal das die Kiesel und der Schotter nur so zur Seite fliegen! Das wunderschöne, naturbelassene Waldareal des Hainich ist besonders durch seinen Baumkronenpfad bekannt, den wir allerdings links liegen lassen. Doch wir kommen bestimmt wieder, zu schön ist es hier!
Dann die Grenzüberfahrt nach Hessen, endlich sind wir im ehemaligen Westen! Gemischte Gefühle und Freude schwirren uns im Kopf umher, wie war es hier noch vor etwas mehr als 30 Jahren? Wir wissen um unsere Freiheit und sind überaus dankbar dafür.
Nun wird es immer herausfordernder, eine nicht allzu anspruchsvolle, effiziente Route durch die Täler zu finden – zu viele Höhenmeter kann man ja am besten durch geschickte Flussradwege vermeiden, wir lernen unterwegs permanent dazu. Um ins Fuldatal zu gelangen, kommen wir um einen saftigen Anstieg Richtung Spangenberg nicht herum, doch die lange Abfahrt macht dafür mehr Spaß denn je. Und den Durst hinterher mit einem kühlen Getränk direkt aus dem Kühlschrank zu löschen ist ja eine der größten Freuden überhaupt.
Wir haben erneut wenig Lust zu zelten, steigen in der sehr netten, gemütlichen Pension Zur Traube in Melsungen ab, genießen wiederum italienisches Essen und ein bequemes Bett.
Großes Blatt, Kette rechts – das Sauerland ruft
Am vorletzten Tag heißt es noch einmal Laktat anhäufen und durchziehen. Heute geht es ins Sauerland, mehr als mittelgebirgige 1000 Höhenmeter stehen an. Erst einmal geht es in Richtung Edertalsperre, lassen diese aber gekonnt am Wegesrand liegen und biegen stattdessen vorher schon in nördliche Richtung nach Korbach ab. Auf einem langen ehemaligen Bahndamm kommen wir entspannt voran, obwohl es mittlerweile aus Eimern schüttet. Langsam gewinnen wir bereits an Höhe. Läuft, in jeglicher Hinsicht. Hinter Korbach dringen wir endgültig ins Sauerland vor, wir pumpen wie die Maikäfer ob des enorm welligen Profils, der erste Gang reicht kaum noch aus zum Hochkurbeln. Völlig fertig und mit stehendem Wasser in den Schuhen erreichen wir unsere Pension im Wintersportort Willingen – was für ein Ritt!
Komm zur Ruhr!
Finale! Der letzte Tag der Ost-West-Radtour ist angebrochen. „Nur“ noch etwas über 100 km trennen uns vom Ziel in Iserlohn. Los geht es mit vielen negativen Höhenmetern, wir rollen runter ins Ruhrtal und sind damit in NRW – juhu! Nur noch entspannt das Tal hinab – denken wir! Doch die sehr fiesen gelegentlichen Gegenanstiege hatten wir irgendwie nicht auf dem Schirm, die bringen uns nochmal ordentlich zum Schnaufen.
Die Beine fühlen sich nach diesen kleinen Pulsbeschleunigern mittlerweile wie Pudding an, es wird Zeit, anzukommen.
Über den Ruhrtalradweg geht es durch kleine, industrielastige Ortschaften, seitlich entlang Landstraßen und manches Mal auch durch die grüne Flusslandschaft über Schotterwege. Die Kilometer fliegen erstaunlich schnell dahin, und zack, verlassen wir auch schon das Ruhrtal Richtung Iserlohn. Eine imaginäre Glocke in unseren Köpfen läutet zur letzten Runde. Die vertrauten Straßen und Hügel von Simons Heimat kommen in Sicht, die Sonne brennt, und die Beine ebenfalls. Am Ortseingangsschild von Iserlohn Hennen wird erst einmal angehalten und der Moment zelebriert – wir haben es tatsächlich geschafft! Einmal relativ spontan und ohne großen Plan quer durch Deutschland! Am Abend wird in vertrauter Runde mit ausreichend Abstand am Lagerfeuer auf unser Abenteuer angestoßen!
660 km quer durch Deutschland, sechs Tage lang über 100 km, fünf Bundesländer. Wir hatten eine verrückte Idee, wenig Zeit und haben uns der Herausforderung gestellt. Noch Tage nach dem Tourende merke ich die Oberschenkelmuskeln, doch denke ich ob der vielen neuen Eindrücken und der schönen Radwege jetzt schon gern an diese Tour zurück. Und noch etwas ist klar:
Wir sind vom Bikepacking-Fieber endgültig angefixt!