Ausgesetzt im Nirgendwo

Zu Fuß durch die Mongolei

Als Oonoos Kleinbus über das letzte Stück Wiese rumpelt, muss ich mich konzentrieren, um ganz langsam zu atmen. Mein Puls rast. Meine Hände sind eiskalt und verschwitzt. Immer wieder reißt Oonoo das Steuer zur Seite, um tiefen Löchern und riesigen Grasbüscheln in der Mongolei auszuweichen. Aber das ist es nicht, was mich gerade so nervös macht. Es ist der Fluss. Der Fluss, an dem Oonoo uns gleich aussetzen wird. Und der ist keine 50 Meter mehr entfernt.
Oonoo ist unser Fahrer. Unser Fahrer ins Nirgendwo. Wir kennen ihn erst seit heute Morgen. Gesprochen haben wir seitdem kein Wort, weil wir einander nicht verstehen. Die letzten acht Stunden hat mir das nichts ausgemacht. Jetzt ist das anders. Es zerreißt mich fast, dass ich ihm keine Fragen stellen kann. Wir müssen ihm stumm vertrauen.

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Eine Gruppe Einheimischer
Franziska mit einem Einheimischen und einem Pferd.

Irgendwo in der Mongolei <<

Ich blinzle noch ein paar Mal und plötzlich steht Oonoo mit seinem Zahnlücken-Grinsen nicht mehr vor uns, sondern verschwindet als kleiner dunkler Fleck hinter dem Horizont.

Jetzt sind wir allein. Irgendwo im Westen der Mongolei. Sie ist das am dünnsten besiedelten Land der Welt. Wenn wir jetzt was vergessen oder bei den Vorbereitungen einen Fehler gemacht haben – ab sofort gibt’s keine Chance mehr, ihn zu korrigieren.

Wenn ich Jahre später zurückdenke, kommt es mir vor, als wäre mein Kopf in diesem Moment leer gewesen. Ein minimal kurzer Augenblick, ein paar Mal Blinzeln, ein paar Mal Herzklopfen bis zum Hals. Und plötzlich sind wir allein, Mitten im Nirgendwo.

»Ab sofort haben wir keine Chance mehr, Fehler zu korrigieren«

In diesem Moment wussten wir nicht, welche Herausforderungen wir in den kommenden Wochen meistern müssen. Naja – vielleicht nicht meistern – mehr überstehen. Wir wussten nicht, welche Fehler wir bei der Vorbereitung gemacht haben und ob wir diesem Abenteuer wirklich gewachsen waren. Was wir aber wussten: Wir wollten den Westen des am dünnsten besiedelten Landes zu Fuß durchqueren – und dabei die echte Wildnis spüren. Sobald wir losgelaufen sind, können wir nicht einfach wieder damit aufhören. Uns wird niemand abholen, niemand wird auf uns warten. Wenn all unsere Ideen und Vorstellungen von der Welt ein Bilderbuch wären, dann sind alle Seiten, die zur Mongolei gehören, große, weiße Löcher. Wir hofften, dass jeder Schritt dazu beitragen würde, die weißen Seiten mit Farbe zu füllen.

Franziska auf einem Pferd
Franziska Bär

>> Haben sich Christoph Kolumbus & Co. ähnlich gefühlt?

Also haben wir unsere Rucksäcke auf unsere Rücken gehievt und sind losgegangen. Felix ein paar Meter vor mir, das hohe Gras bewegt sich mit den Windböen, es riecht nach Salbei und Kamille. Ganz kurz glaube ich, ahnen zu können, wie sich James Cook, Christoph Kolumbus und Marco Polo gefühlt haben müssen. Im Entdeckermodus in unberührter Wildnis.

Noch bevor ich den Gedanken weiterspinnen kann, biegen wir um eine Bergflanke und sehen die erste Jurte am Horizont in der Nachmittagsonne blinzeln.

„Gar nicht so unberührt“, denke ich mir. Vielleicht haben sich die ersten, großen Entdecker  doch ein bisschen anders gefühlt.

Aber so ist das eben in einem Land, das auch heute noch zum Großteil von Nomaden besiedelt wird. Du weißt nie, ob sie drei Kilometer entfernt sind, oder 300. Eine der Tatsachen, die uns bei der Vorbereitung für dieses Abenteuer vor große Herausforderungen gestellt hat.

In unserem Fall – ein paar vorsichtige Schritte, nachdem Oonoo uns zurückgelassen hat – ist das kleine Mädchen, das begeistert auf uns zurennt, nur 300 Meter entfernt.


Ein Nomade
Franziska Bär

Die erste Nomadenbegegnung: Stumme Gespräche & schüchterne Lacher <<

Das kleine Mädchen ist die Tochter von Bat-Thahan. Ein Nomade, dessen Gesicht stumme Geschichten über eiskalte Winter, heiße Sommer und sein hartes Leben in der mongolischen Wildnis erzählt. Bat-Thahan, seine Frau und die neun Kinder schenken uns unsere erste Begegnung in einer Jurte. Ein Nachmittag, ein Abend und eine Nacht geprägt von stummen Gesprächen, schüchternen Lachern. Einem mongolischen Abendessen, so authentisch es nur geht, das uns – sagen wir mal – wohl für immer in Erinnerung bleiben wird.

Wir geben uns alle Mühe, auf keinen Fall irgendetwas falsch zu machen. Ich steige über die Holzschwelle und nicht auf sie – dem Glauben der Mongolen nach würde das der Familie Unglück bringen. Wir warten, bis uns das Familienoberhaupt einen Platz auf dem Teppich zuweisen. Dann setzen wir uns im Schneidersitz hin – damit unsere Fußsohlen nicht auf die Nomaden zeigen.

Wir malen unser Alter in den Sand. 22. 30. Sie machen es uns nach und zeichnen die Lebensjahre sämtlicher anwesender Familienmitglieder daneben. Bis der staubige Sandstreifen zwischen Teppich und Tierfell voller Zahlen ist. Wir zeigen ihnen unsere alten, russischen Militärkarten. Sie sind die einzigen Landkarten, die für unser Vorhaben, den mongolische Westen zu Fuß als Selbstversorger zu durchqueren, präzise genug waren. Mit unseren Fingern fahren wir die Route nach, zehn Köpfe beugen sich über den blassen Kartenabschnitt, die Augen werden riesig. Dann nicken alle und einer von ihnen schwingt Zeige- und Mittelfinger so von vorn nach hinten, als würden die Finger laufen. Von da an ist das die Geste, mit der wir den Mongolen unser Vorhaben erklären. Die Finger wackeln, sie verstehen uns.

Die ganze Familie wackelt mit den Fingern, als wir uns nach unserem Abschied noch einmal umdrehen und winken. Und dieses Mal laufen wir wirklich los, am Horizont tauchen keine Jurten auf, niemand kommt auf uns zugerannt. Nur die Einsamkeit, die ist uns von da an immer auf den Fersen. Oft holt sie uns ein. Sie ist schneller als wir laufen können.

>> Die Einsamkeit ist schneller als wir

Gut 400 Kilometer laufen wir quer durch die westlichen Provinzen der Mongolei. Wir lernen, wie es sich anfühlt, sich in völliger Abgeschiedenheit auf einen einzigen Menschen verlassen zu müssen. Wir lernen, dass der Partner sich bei Gewittern auf Bergpässen, in stürmischen Zeltnächten und bei der Durchquerung von tosenden Gletscherflüssen in einen wahren Helden verwandeln kann. Wir lernen, was es bedeutet, in unendlicher Einsamkeit Grenzen zu überwinden und Flüsse zu durchqueren. Wie süchtig Zahlen im Sand und kleine Handbewegungen machen können. Dass Gespräche stundenlang auch ohne Worte stattfinden können. Wir lernen, dass Neugierde zu den schönsten Erlebnissen führt und dass Einfachheit das größte Geschenk sein kann. Wir lernen, dass Freudentränen umso schneller in die Augen treten, wenn ihnen vorher Tränen aus Verzweiflung, Angst oder Wut den Weg freigemacht haben.

Nie hätten wir uns vorher vorstellen können, wie groß das Nichts ist. Weil der Platz in unserem Kopf nicht ausgereicht hätte. Und all das hat angefangen mit einem einzigen, kurzen Moment. Mit dem Augenblick, als Oonoo uns Mitten im Nirgendwo aussetzte. Oder vielleicht schon vorher: In der Sekunde, in der dieses Abenteuer zum ersten Mal in unsere Köpfe geschossen ist und wir wussten, wir müssen diese Vorstellungen ausmalen mit echten Erlebnissen. Ein Bilderbuch macht auch nur Sinn, wenn es voll mit Farbe ist. Richtig?

Abenteuer Mongolei – Die Online Lesung!

Große Einsamkeit, Unberührtheit und so gut wie kein Tourismus. Franziska & Felix erfüllten sich diesen Traum und bereisten die westliche Mongolei – zu Fuß. In der Online-Lesung geben sie euch spannende Einblicke ihrer Reise. Angefangen von Schwierigkeiten bei der Reisevorbereitung, über die Unterschiede von Erwartungshaltung und Realität, bis hin zu Begegnungen, die sie auf ihrer Reise erlebten und nachhaltig prägten.

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Text: Franziska Consolati (geb. Bär)
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