Japan: das große Staunen

Japan ist kompliziert und teuer – dachte auch GM-Chefredakteur Stephan Glocker, bevor es ihn zunächst nach Hokkaido verschlug. Vier Monate später wollte er dann auch die anderen Inseln kennenlernen.

Michael Neumann

Ausgerechnet Japan. Traveller haben das Industrieland am Ostrand Asiens selten auf dem Zettel. Verlockende Reiseberichte gibt es wenige, dafür viele Gerüchte: über hohe Preise, winzige Schlafkabinen und gewaltige Sprachprobleme. Da setzt man den Fernreise-Etat doch lieber auf Traumziele in Nordamerika oder Neuseeland. Genau an dieser Stelle kamen mir Frau Holle und Herr Abe dazwischen. Zum Glück.

Japan im Winter

Januar 2015: Die langersehnte Kanada-Winterreise mit Mietmobil und Tiefschnee-Ski steht auf der Kippe, in den Rocky Mountains will einfach kein Schnee fallen. Grüne Hügel auch in den Alpen. Wohin also mit Urlaubstagen und Reisekasse? Wir checken Wetterprognosen weltweit – und stoßen auf Hokkaido. Auf der japanischen Nordinsel fallen 15 Meter Schnee pro Saison. Unser sonstiges Hintergrundwissen: 1972 war die Hauptstadt Sapporo Schauplatz der Olympischen Winterspiele (Platz 6 in der Abfahrt für Rosi Mittermaier). Außerdem hat man mal Hokkaido-Kürbissuppe gegessen. Okay, eine etwas dünne Planungsgrundlage …

Einige Telefonate und Internetrecherchen später wird Hokkaido greifbarer: sieht aus wie Lappland mit Vulkanen, bietet im Winter neben dem meisten Schnee auch das beste Sushi der Welt – und ist erschwinglich. Wegen der Geldschwemme-Politik von Premierminister Abe sind die Preise für Mitteleuropäer niedriger als zu Hause. Zudem ist Nebensaison. Flug ab 600 Euro, Übernachtung ab 30 Euro, Mittagessen ab 6 Euro. Wir loggen ein.

Februar 2015: zurück aus Japan, mit verklärtem Blick. Gut, das Wetter war prima, der Tiefschnee superb und der Roadtrip mit den Ski-Kumpels feuchtfröhlich. Die Traumtour haben wir bekommen. Dazu aber eine unverhoffte Zugabe: die Wiederentdeckung des Staunens.

Wo fange ich an? Bei dem Mautkassierer, der im Schneesturm begeistert aus seinem Häuschen hüpft und sich vor unserem heranschlitternden Auto vielfach verbeugt? Oder beim Navi des Mietwagens, dessen verheißungsvoller »English«-Button direkt in ein japanisches Untermenü führt – einen aber ans Ziel bringt, wenn man die Telefonnummer des Skigebiets eingibt?

Oder bei dem Provinz-Kaufhaus, in das man kurz nach der Ankunft hineinstolpert? Oben lärmend-blinkende Spielzeugberge und Manga-Kostüme (auch in Erwachsenengrößen?!); im Untergeschoss ein Angebot an Take-away-Essen, das westliche Standards von Qualität und Frische lächerlich erscheinen lässt. Mein Gott, ist das Essen hier überall so gut? (Ja, ist es.) Oder beim gespenstisch-leeren Luxushotel Windsor, das im Look eines Ozeandampfers einsam auf einem Kraterrand zwischen Vulkansee und Pazifik thront? 2008 war hier G8-Gipfel, nun gibt’s Zimmer zum Schnäppchenpreis – und ein Kichern des livrierten Portiers, wenn wir die Ski beim hoteleigenen Rolls-Royce abstellen, um im Onsen abzutauchen. Nur Harti darf nicht ins Thermalbad, wegen seiner Tattoos. Diese sind in Japan ein Kennzeichen der Yakuza, und Gangster sind im Onsen nicht willkommen. Dass man für den harmlosen Harti keine Ausnahme macht, weil sich ja sonst die Yakuza beleidigt fühlen könnten, ist ein schönes Beispiel für die japanische Sicht der Dinge.

Diese Melange aus Verwunderung und Bewunderung fasziniert und verleiht der Reise eine unerwartete Exotik. Die Zugewandtheit und Höflichkeit der Menschen hilft über viele Problemchen hinweg, auch Sprachgrenzen lassen sich mit Händen, Füßen und Grimassen meist gut überbrücken. Anderes bleibt rätselhaft. Die Unverbindlichkeit eines Ja; die Unmöglichkeit eines Nein; das verzwickte Hausschuh-System; die Toiletten mit ihren Raumschiff-Displays, 14 Waschprogrammen und Popo-Föhn.

Man schnappt Verhaltensregeln auf – Verbeugen statt Handschlag, Visitenkarten mit zwei Händen übergeben, Stäbchen nicht ins Essen stecken –, aber sie bleiben dilettantische Versuche am Rande eines Kosmos, den zu erfassen man eigentlich keine Chance hat. Also behilft man sich mit Sokrates – ich weiß, dass ich nichts weiß –, freut sich über das Wohlwollen der Gastgeber, wenn man offenbar etwas richtig gemacht hat, und gibt sich ansonsten der ursprünglichsten aller

Touristenfreuden hin: eben dem Staunen. Während meiner frühen Reisen hatte ich das zuletzt so intensiv erlebt, meine ersten Tage in Bolivien sind bis heute in mein Hirn gebrannt. Aber mit wachsender Erfahrung kam mir das Staunen irgendwie abhanden. Nun ist es wieder da. Und wer sich ein- mal auf diese Mischung aus akzeptierter Ahnungslosigkeit und ehrlicher Neugier einlässt, den hat Japan am Haken.

Japan im Sommer

Juni 2015: Japan holt die Leine ein. Ich muss da noch mal hin. Der eigentlich längst besprochene Sommerurlaub ist umgeworfen, die Gattin überredet, und im Gegensatz zum Spontan-Trip im Januar bleibt sogar etwas Zeit für die Reiseplanung.

Das Getümmel von Tokio lassen wir schnell hinter uns, mit dem Schnellzug Shinkansen geht es zum Fuji-Hakone-Nationalpark, einem beliebten Ausflugsziel der Hauptstädter. Das deutsch-japanische Rätsellösen geht damit natürlich in die nächste Runde. Rätsel: Welchen Zug nimmt man? Lösung: Infos und Sitzplatzreservierung gibt’s samt hilfreichen Erklärungen am Ausländer-Schalter des Bahnhofs.

Rätsel: Warum lächeln am Zielort die Angestellten der Autovermietung eine Stunde die Decke an, statt uns einen Mietwagen zu geben? Lösung: Trotz vorgeschriebener Führerschein-Übersetzung scheinen unsere Papiere unzureichend, was man uns aber nicht klipp und klar sagt, denn das wäre unhöflich. Wir fragen immer wieder nach, und können daher als typische Westler »die Luft nicht lesen« – kapieren also gar nicht, dass unserem Anliegen nicht entsprochen wird. Deshalb wird gelächelt, bis wir endlich abziehen. Nebenan klappt es problemlos mit einem Mietwagen.

Rätsel: Warum befindet sich der Fuji gar nicht im gleichnamigen Nationalpark? Wir sind etwas verdutzt. Lösung: Japans höchster Berg liegt 30 Kilometer außerhalb des Fuji-Hakone-Parks, erhebt sich aber am Horizont so fotogen über Ashi-See und Hakone-Schrein, dass die meisten Touristen hierherkommen. 95 Prozent der Touristen in Japan sind Japa- ner, und fast alle sind in Gruppen unterwegs. Jetzt im Juni ist »Pflaumenregenzeit« und die berühmte Silhouette von Wolken verhüllt. Das Massenprogramm mit Bimmelbahnen und Piratenschiffen läuft unverdrossen weiter. Abseits des Trubels lassen sich die Berge, Wälder und Seen des Parks auf kleinen Trails erwandern. Auf diesen sind wir fast alleine unterwegs.

Eine Unterkunft zu finden, bei Bedarf auch spontan, ist kein Problem, booking.com und Tripadvisor funktionieren auch in Japan tadellos. Wie von sämtlichen Reiseführern und Japan-Tippgebern empfohlen, quartie- ren wir uns auch mal im Ryokan ein, einem traditionellen Gasthaus mit Papier-Schiebetüren und Tatami-Bodenmatten. Nach dem sehr freundlichen Empfang und einer kleinen Einweisung für ahnungslose Westler führt man uns in ein unmöbliertes Zimmer – Esstisch oder Futons werden von emsigen Angestellten nach Bedarf auf- und abgebaut. Halbpension ist im Ryokan üblich, serviert wird im Zimmer. Das Abendessen erweist sich als vielgängiger Streifzug durch Japans Hochküche. Alle zwanzig Minuten summt Bedienung Mizuki vor der Schiebetür ein Liedchen, um ihr Eintreten diskret anzukündigen. Dann präsentiert sie kniend ein weiteres Tablett voller kleiner Wunderwerke: rohen Fisch, gepökelten Fisch, geräucherten Fisch, Suppen, Mini-Knödel, Fleischstreifen auf faustgroßen Tischgrills, insgesamt über 30 Gerichte, kunstvoll angerichtet auf herrlichen Keramiken. Quietschen vor Ver- gnügen ist im Ryokan leider unangebracht. Nach dem Festmahl geleitet man uns über eine Hängebrücke zum Onsen, einem von Bambuswald eingerahmten Felsbecken. Och, so ein heißes Bad unter den Sternen …

Zum Hinziehen schön: Kyoto

Wieder im Shinkansen-Zug – pünktlich, blitzsauber, und der Schaffner verbeugt sich vor und nach der Ticketkontrolle vor jedem Fahrgast. Wobei die Vorstellung eines schwarzfahrenden Japaners selbstredend undenkbar ist. Mit 270 km/h durchmisst der Schnellzug die grünen Landschaften, am Horizont grüßen die japanischen Alpen. Staunend lese ich im Reiseführer über die Tateyama-Kurobe-Wanderroute, dem hiesigen Pendant zum Alpencross von Oberstdorf nach Meran. Nur dass man die 90 Kilometer lange japanische Variante leicht an einem Tag schafft, ein nahtloses Transportsystem aus Liften, Gondeln und Bussen macht das eigentliche Wandern nämlich überflüssig.

Fahrradfahrerin vor einem Tempel in Kyoto
Stephan Glocker

Ankunft in Kyoto. Neben dem Ryokan das andere »Müsst ihr machen!« aller Ratgeber an uns Japan-Rookies. Während die meis- ten Städte im Zweiten Weltkrieg flächendeckend bombardiert und später als erd- bebensichere Betonburgen wiederaufgebaut wurden, blieb der alten Kaiserstadt dieses Schicksal erspart. Der US-Kriegsminister, der Kyoto vor dem Krieg besucht hatte, verhinderte auch den Abwurf einer Atombombe auf die Stadt.

Und was wäre das für ein Verlust gewesen! Kyoto ist eine dieser Städte, wo man schon nach zwei Tagen Aufenthalt hinziehen möchte: wunderschön, entspannt, international. Ein Schachbrett-Schnitt und drei Flüsse er- leichtern dem Besucher die Orientierung, grüne Hügel flankieren das weite Tal. Im Gegensatz zu Tokio und anderen Megastädten herrscht eine lockere Atmosphäre, zahllose Radfahrer kurven – für japanische Verhältnisse geradezu anarchistisch – über die Bürgersteige, zwischen klassischen Teestuben finden sich Coffee-Shops und französische Bäckereien.

Japanischer Zengarten
Stephan Glocker

»Mit wachsender Erfahrung als Reisender kam mir das Staunen irgendwie abhanden. Nun ist es wieder da.«

In den alten Vierteln Kyotos wechseln winzige Gassen mit Tempelanlagen und Palästen. Hunderte Schreine gibt es, in allen Stadtvierteln, aber auch auf den umliegenden Anhöhen – wie der weltberühmte Fushimi-Inari-Schrein, den man über eine kilometerlange Allee aus rund 10 000 roten Torii-Torbögen erreicht. Ein kleiner Kulturausflug wird so leicht zum Wandertag.

Als ideale Vehikel erweisen sich E-Bikes, die unser Hotel vermietet: Kreuz und quer geht’s damit durch Kyoto, entlang des Philosophenwegs zu Tempeln und Schreinen, dann zum Picknick beim Kaiserpalast, schließlich weiter zum Affenberg. Dort stehen die Besucher im Käfig, während die Makaken sich das von außen anschauen und Futter herausreichen lassen. Ein sehr interessanter Perspektivwechsel …

Feinheiten des Nudelssuppen-Wesens

Natürlich hält auch das weltoffene Kyoto noch genug Rätselhaftes vor, umso mehr freuen wir uns über die nette Dame in der Schlange vor dem Ramen-Lokal, die uns in absolut perfektem Englisch die Feinheiten des Nudelsuppen-Wesens näherbringt:

  1. Ohne eine Warteschlange taugt das Lokal nichts.
  2. Jede Region Japans hat eigene Ramen-Varianten.
  3. Am Automat vor dem Lokal sucht man eine Variante aus, wählt Extras und Portionsgröße und wirft die angezeigte Summe ein.
  4. Wer an der Reihe ist, gibt der Bedienung das Automaten-Ticket, bekommt einen Platz zugewiesen und bald auch die Suppe gebracht.
  5. Die Einlagen isst man mit Stäbchen, die Brühe mit Löffel oder schlürfend.
  6. Wenn fertig, gibt man zügig seinen Platz frei, denn ein Ramen-Lokal ist keine Kneipe. Dass die Suppen zum Niederknien gut sind, braucht natürlich nicht eigens erwähnt werden.

Als wir uns beim Rausgehen bedanken, auch weil wir bislang kein so witziges Gespräch inklusive ungewohnt griffigen Informationen mit Japanern geführt hätten, lacht unsere Bekanntschaft los. »Das habt ihr auch nicht. Ich bin Chinesin.«

Shikoku – Pilgerinsel mit Bergen und Stränden

Wer mehr von Japan sehen möchte, hat die Qual der Wahl: fast 7000 Inseln über 4000 Kilometer verteilt, vom subtropischen Okinawa im Süden bis zum kalt-gemäßigten Hokkaido im Norden. Das Foto eines Traumstrandes gibt den Ausschlag: Wir fahren ein paar Tage nach Shikoku, die kleinste der vier Hauptinseln. Auf einer kilometerlangen Brücke überquert der Regionalzug das Meer, dann geht es durch Reisfelder und später hinauf in die Berge, die mit ihren grünen Steilflanken ans Tessin erinnern. In der Schlucht des Shimanto-Flusses tummeln sich Kajakfahrer. Fast wie in den Südalpen, wären da nicht die Durchsagen auf Japanisch und die Bento-Boxen mit Reiseproviant, die sich fast jeder Passagier am Bahnhof kauft und gemütlich im Zug verzehrt.

Ein Strand auf den japanischen Insel Shikoku
Stephan Glocker

In Kochi ergattern wir einen Mietwagen und erreichen abends die kleine Surferpension bei Oki, die wir im Internet reserviert haben. Da ist er, der Traumstrand. Lange Spaziergänge am Meer und Tagestouren in kleine Naturparks eröffnen uns eine weitere Seite Japans – still, entspannend, gesegnet mit grandioser Landschaft. Nicht zufällig ist Shikoku die Insel der Pilger. Eine 1200 Kilometer lange Route verbindet 88 Tempel, oft sieht man weiß gekleidete Wanderer, die unbeirrt diesem Weg folgen.

Beim letzten Abendessen in einem Fischerdorf reden wir darüber, wie absurd wenig wir eigentlich von Japan gesehen haben. Und dass es sich trotzdem so anfühlt, als hätten wir eine ganze Welt entdeckt.

»Absurd wenig haben wir von Japan gesehen. Trotzdem fühlt es sich so an, als hätte man eine ganze Welt entdeckt.«


Das nehm ich mit