Italien, nördlicher Apennin. Um den markanten Tafelberg Pietra di Bismantova wabern an diesem kühlen Frühjahrsabend ein paar graue Wolken. Wer aber genau hinschaut, entdeckt sonderbare Farbtupfer: Es sind bunte Hängematten, eine ganze Reihe, eingehängt in eine Slackline-Konstruktion, die sich über eine tiefe Schlucht spannt. Was ist denn da los?
Jede Matte ist besetzt: Die Insassen genießen das Leben, musizieren oder lesen in einem Buch – bevor die Nacht hereinbricht und über ihren Köpfen nur noch Mond und Sterne leuchten. Alle Teilnehmenden dieses Hängematten-Happenings sind zusätzlich per Klettergurt gesichert – trotzdem sieht das Ganze schon ziemlich abenteuerlich aus.
»Wenn ich von hier aus in den Himmel schaue, ist das einfach unglaublich zauberhaft. In diesem Moment der subjektiven Gefahr ist die Hängematte eine große Komfortzone. Hier fühle ich mich geborgen.«
Das sagt Igor Scotland, ein 37-jähriger Wiener und einer der Eigentümer von Ticket To The Moon (TTTM). Die Firma stellt Hängematten her – und organisiert nebenbei auch mal Events wie diese kollektive Hängepartie an der Pietra di Bismantova.
260.000 handgenähe Hängematten jedes Jahr
TTTM ist eine Art franco-austro-balinesisches Joint-Venture, dessen Ursprünge bis 1995 zurückreichen. Damals kam der Franzose Charly Descotis zum ersten Mal auf die indonesische Insel Bali, wo er neben einem entspannten Lebensgefühl auch einen Stoff entdeckte, der ihm als perfektes Material für Hängematten erschien: Fallschirm-Nylon, einerseits extrem leicht, andererseits extrem stabil.
26 Jahre später hat TTTM auf Bali Millionen von Hängematten produziert und in die ganze Welt verkauft. Aktuell fertigen rund 300 Beschäftigte 260 000 Matten jährlich. Ein gewaltiges Wachstum.
»Zum Teil war die Nachfrage so groß, dass wir keine Schneider mehr gefunden und eigens Ausbildungsklassen auf Bali installiert haben«, erzählt Igor Scotland, der 2007 zum Unternehmen kam. Nachdem er Charly auf einer Messe kennengelernt hatte, besuchte er mit seinem Bruder und Freunden die Produktion auf Bali mit damals rund 40 Mitarbeitenden – und stieg in die Firma ein. Igor, studierter Materialwissenschaftler, kümmerte sich zunächst um den Vertrieb, später verstärkt um die Produktentwicklung.
Schaukeln in Hängematten stimuliert das Gehirn
Werkstatt, Produktion, Qualitätskontrolle und ein Teil des Marketings: All das passiert in Indonesien. Später kam ein Standort in Wien dazu, wo sich vor allem Florian Hubmann um den europaweiten Vertrieb kümmert. Über Igors Bruder ist er vor einigen Jahren zu TTTM gekommen und war anfangs auf vielen Events und Messen dabei, um dort mit potenziellen Kunden in den direkten Austausch zu gehen – auch als »professioneller Kinderschunkler«, wie er es mit Wiener Schmäh beschreibt.
»Ich habe auf den Veranstaltungen erlebt, mit wie viel Freude die Leute unseren Produkten begegnen. Das hat mich berührt.« Dass sich das Schaukeln in einer Hängematte positiv auf das Gehirn auswirken kann, hat eine Studie gezeigt, in der das Schlafverhalten von Probanden getestet wurde. Dabei kam heraus, dass das Schaukeln bestimmte Hirnregionen so stimuliert, dass es das Einschlafen erleichtert und Tiefschlafphasen verlängert.
5000 Quadratmeter große Produktionshalle auf Bali
Doch nicht nur die Kunden will TTTM glücklicher machen, auch die eigenen Mitarbeitenden. Man sieht sich nicht als ein weltweit agierendes Unternehmen, vielmehr als eine Familie. Ein Stamm. »Wir wollen, dass die Arbeit für alle Beteiligten so angenehm wie möglich ist«, sagt Florian. »Dass man auf Bali eine offene und transparente Firmenkultur lebe.« Im wahrsten Sinne: Die Türen zur rund 5000 Quadratmeter großen Produktionshalle im Süden der Insel stehen für Interessierte immer offen.
»Wir sind aber nicht nur cool«, lacht Igor, »wir funktionieren auch.« Dieses »wir« umfasst auch die Hängematten, die auf Bali entworfen und weiterentwickelt worden sind. Das luftdurchlässige und widerstandsfähige Nylon passt sich beim Liegen an den Körper an, so liegt man sicher und bequem. Die Mitarbeitenden vernähen die Stoffe, die ebenfalls in Indonesien produziert werden, per Hand. »Die Balinesen sind bekannt für Handwerkskunst. Unsere Produkte sind mit Liebe gemachte Qualität«, sagt Florian.
Hängematten aus Fallschirm-Nylon
Neben den sozialen Aspekten sieht man sich bei TTTM auch hinsichtlich der Rohstoffe in der Pflicht, denn das Fallschirm-Nylon, aus dem die Hängematten gefertigt sind, basiert auf Erdöl. »Das ist bislang noch ein Kompromiss«, sagt Igor. Zwar sei der Stoff sehr robust, komplett recyclingfähig und habe einen langen Lebenszyklus. Doch Erdöl ist kein nachwachsender Rohstoff. Daher will TTTM weg davon und in Zukunft auf pflanzenbasierte Kunststoffe setzen. Technisch ein sehr anspruchsvolles Thema. Aktuell plant man eine erste limitierte Edition auf Basis von Rizinusöl und will diese dann weiterentwickeln.
»Wir wollen aber vorher schon unseren CO2-Fußabdruck so klein wie möglich halten«, sagt Florian. So läuft beispielsweise die Energieversorgung der Büros und eines Teils der Produktion auf Bali bereits mit Solarstrom, die restliche Produktion soll in den kommenden Jahren folgen. TTTM will langfristig zum »Zero Waste«-Produzenten werden und hat schon vor mehr als zehn Jahren begonnen, die Stoffreste der Hängematten anderweitig zu nutzen, beispielsweise für Rucksäcke und Taschen, eine Stranddecke und eine Frisbee-Scheibe. »Wir haben ein ganzes Portfolio aufgebaut. Sonst wären über die Jahre tonnenweise Stoffreste im Müll gelandet«, sagt Igor. Die TTTMHängematten werden natürlich auch in einer passenden Tasche aus Stoffresten geliefert.
Produkte von TTTM besonders in Skandinavien beliebt
Diese Ansichten rund um die Nachhaltigkeit teilen und schätzt auch die Kundschaft: Familien, Reisende und generell Menschen, »die ein Gespür für qualitative und nachhaltige Produkte haben«, sagt Florian. Die meisten Matten werden in Europa verkauft, besonders in Skandinavien. Aber auch in Asien und in den USA vertreibt TTTM seine Matten.
»Wir wollen so direkt wie möglich vertreiben und vor Ort einen guten Service bieten«, sagt Igor. »Aber wir müssen darauf achten, dass alles organisch läuft und wir uns nicht übernehmen.« Das hat das Unternehmen vor der Corona-Pandemie lernen müssen. Großabnehmer und zu viele verschiedene Anfragen bereiteten zusehends Probleme.
Hängematten für Zuhause geplant
Nach einigen Umstrukturierungen laufe es nun aber besser als je zuvor – auch wegen der Pandemie. »Die Leute leben bewusster, legen noch mehr Wert auf Nachhaltigkeit und wollen Zeit in der Natur verbringen.« Und für all diejenigen, die auch zuhause nicht auf das Schaukel-Gefühl verzichten wollen, plant TTTM aktuell eine »Homeline« herauszubringen. Lange drinnen hält es die Hängematten-Macher selbst aber nicht. Florian sagt:
»Ich habe die schönsten Nächte meines Lebens in einer Hängematte verbracht. Diese Erfahrungen haben mich geerdet und gleichzeitig verbinde ich sie mit der großen Freiheit.«
Auch Igor plant in Indonesien, wo es derzeit zwar viel regnet, aber nachts schön warm ist, schon die nächsten Nächte im Freien. Und sicher steht für den begeisterten Slackliner auch bald wieder ein Highline- Event wie an der Pietra di Bismantova an, bei dem er in luftiger Höhe dem Himmel ein kleines Stück näherkommt. Sein Ticket zum Mond eben.