Strahlend weiß leuchten die Gletscher des Berninamassivs. Hier wandert man im Hochgebirge vor einem der schönsten Panoramen der Alpen.
Der Tag beginnt mit einem sonoren Brummen. Nein, es ist eher wie der Ton eines Nebelhorns. Nur höchst ungern verlasse ich das unverschämt gemütliche Bett meiner Diavolezza-Berghaus-Stube, aber die Neugier ist doch zu groß. Ich schiebe die Vorhänge beiseite und blinzle in Richtung der in der aufgehenden Sonne majestätisch wirkenden Berninaspitzen.
Da tutet es wieder. Der Ozeanriese, der hier irgendwo vor Anker liegt, kann sogar eine kleine Melodie spielen. Ich schlüpfe in meinen Fleece und tappe in die frischeste aller frischen Morgenlüfte. Gott, ist das schön! Klischee hin oder her, aber da steht tatsächlich einer und bläst in sein Alphorn.
Ich höre, staune, schaue. Es ist ein Gottesdienst. Lobpreisung der Magie des Augenblicks vor immenser Kulisse. Roland heißt er, mein Wecker, und ist Bergführer hier oben. »Hier oben«, das ist der erste Abschnitt meiner kleinen Bernina-Trekkingtour. Auf vier Etappen will ich über Pontresina und Surlej bis nach Maloja wandern.
Gemütlich war der Start, vorbei an den Seen des Berninapasses. Steil war der Anstieg zum türkisblauen Lej da Diavolezza und hinauf auf den Munt Pers. Der Sage nach lebte hier einst eine Bergfee, genannt Diavolezza, die die Besucher derart in ihren Bann zog, dass sie den Ort nie mehr verlassen wollten.
Auf dem Gipfel, den Blick auf die in der Abendsonne rötlich brennenden Bergspitzen gerichtet, überkam mich ein Schaudern. War es die Teufelin, die mir in den Nacken blies, mich leise flüsternd zum Bleiben überreden wollte?
Auf dem Dach Europas
Jetzt, in der wärmenden Sonne des nächsten Morgens, will ich ihr zurufen: »JA! Ich bleibe!« Doch ach, ich bin ja erst am Anfang der Tour. Ich will mehr sehen, von einer Gegend, die so viele schon in ihren Bann schlug: Nietzsche, Wagner, Hesse, Mann – um nur ein paar zu nennen – konnten nicht genug bekommen vom einzigartigen Licht, von den ungewöhnlich vielen Sonnentagen mit einem Himmel, dessen tiefes Blau zum Greifen nahe scheint, von den vielen Seen und dem frisch-harzigen Duft der Arven. Mein Weg führt mich ins Val da Fain. Hier pfeift es ununterbrochen. Immer wieder wird vor dem Eindringling gewarnt, der da staunend über die Wiesen stapft. Wüste Beschimpfungen muss ich mir von den Murmeltieren anhören, wenn ich sie bei ihrer Siesta störe.
In steilem Zickzack führt der Pfad weiter in den Fels, hoch zur Fuorcla Pischa. Bei meiner Rast entdecke ich zwei Steinböcke. In gewagten Sprüngen bewegen sie sich in den steilen Bergwänden. Die Chancen, das Bündner Wappentier hier zu sehen, stehen gut, denn am Piz Albris befindet sich die größte Steinbockkolonie der Schweiz!
Nach einer Nacht in Pontresina lässt die Schönheit der strahlend weißen Gletscher im Val Roseg meinen Puls höherschlagen. Möglicherweise ist es aber auch die Anstrengung beim steilen Aufstieg zur Fuorcla Surlej. Die jedenfalls lohnt: freie Sicht auf die Seen von Sils und Silvaplana. In der Ferne die Gletscher und die stolzen Gipfel des Berninamassivs.
Ich gönne mir die Seilbahn hinab, übernachte im Tal und gondele am nächsten Morgen wieder hinauf in die klare Höhenluft, um dem sanft abfallenden Höhenweg nach Sils Maria zu folgen. Oberhalb des Silsersees gehe ich über Grevasalvas – dem Drehort des originalen Heidi-Films – meinem Ziel Maloja entgegen und bin in Gedanken wieder bei Nietzsche und Co. Wie recht sie doch hatten, herzukommen.