Interview: Laura Dahlmeier – Nach den Medaillen

Laura Dahlmeier hat ihre erfolgreiche Karriere im ­Biathlon beendet – auch um mehr Zeit für die Berge zu haben. Neben ihrem Studium und dem Job als TV-Expertin widmet sich die 28-Jährige jetzt ziemlich anspruchsvollen ­Kletter- und Skitouren.

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Laura, als Biathlon-Olympiasiegerin und durch deine Arbeit jetzt als ZDF-Expertin wirst du zwangsläufig erkannt. Wenn du bei dir zu Hause den Jubiläumsgrat auf die Zugspitze gehst, musst du viele Selfies machen?

Wenn ich klassisch die erste Seilbahn nehme, dann werde ich schon um das eine oder andere Foto gebeten. Deshalb starte ich lieber ganz in der Früh zu Fuß von meiner Haustür in Garmisch und bin vor der ersten Bahn oben am Grat. Dann jogge ich rüber und treffe vielleicht eine Seilschaft, die in der Biwakschachtel auf halber Strecke übernachtet hat. Bis die realisiert haben, wer ich bin, bin ich schon wieder weg.

Sind die Berge dein Rückzugsort?

Ich kann dort sehr gut nachdenken. Gerade jetzt, wo ich auch noch mal Sportwissenschaften studiere, lasse ich mich am Schreibtisch schnell ablenken. Wenn ich aber draußen bin, kommen mir viele gute Gedanken und ich kann zum Beispiel meine Vorlesung noch mal durchgehen. Natürlich nicht während einer schwierigen Kletter­tour, aber beim Trailrunning funktioniert das ganz gut.

»Als Kind habe ich lange nicht gewusst, dass es auch Spielplätze im Tal gibt.«

War deine Liebe zu den Bergen als geborene
Garmischerin vorprogrammiert?

Die habe ich von meinen Eltern. Meine Mama war Profi-­Mountainbikerin. Sie hatte einen kleinen Kindersitz vorne auf dem Fahrrad und hat mich immer zum Training mitgenommen. Als Kind habe ich lange nicht gewusst, dass es auch Spielplätze im Tal gibt, weil wir immer den Berg hinaufgefahren sind.

Wie bist du dann zum Biathlon gekommen?

Das Christkind hat mir Langlaufski gebracht – ich war total enttäuscht, weil ich mir einen Lenkbob gewünscht hatte. Wie auf Alpinski habe ich mich dann draufgestellt und bin ungebremst in den Wald geschossen. Das hat keinen Spaß gemacht. Durch einen Bekannten meiner Eltern habe ich dann mal das Schießen beim Biathlon ausprobiert und war total fasziniert. Weil aber das Langlaufen zum Biathlon dazugehört, habe ich beschlossen, es noch mal damit zu versuchen.

Mit Erfolg. Laura, du hast im Biathlon absolut alles erreicht. Aber die Berge haben dich nie losgelassen?

Die Faszination war immer da und ich habe sie auch schon früh ausgelebt. Meine ersten langen Hüttenwanderungen habe ich mit sieben Jahren unternommen – durch den Rosengarten und die Brenta. Am liebsten waren mir Abschnitte mit Klettersteigen, da konnte ich den Fels mit den Händen spüren. Je wilder, desto lieber war mir das. Mein Papa hat mich auch das erste Mal über den Jubiläumsgrat mitgenommen und ist mit mir zum Beispiel am Höllentorkopf geklettert. Schon während meiner Zeit im Biathlon habe ich gemerkt: In den Bergen finde ich eine Freiheit, die mir im Leistungssport manchmal fehlt.

»In den Bergen finde ich eine Freiheit, die mir im Leistungssport manchmal fehlt.«

Laura Dahlmeier Olympia

Du warst auch während deiner Leistungssportkarriere viel in den Bergen unterwegs?

Klettern war immer der ideale Ausgleich. Schon mit 16 oder 17 Jahren haben mich die Burschen mit nach Arco zum Klettern genommen und ich konnte alles um mich herum vergessen. Da war ich einfach Laura, der Mensch, und weniger die Biathletin. An Ruhetagen bin ich den Waxenstein hochge­kraxelt, habe von oben hinunter­geschaut und versucht, den Biathlon mal Biathlon sein zu lassen. Oder ich hab auf der Rückfahrt vom Weltcup rumtelefonie­­rt, wie der Schnee zu Hause ist und wer am Monta­­g mit auf Skitour geht. Das hat mir Kraft gegeben.

Profitierst du andersherum jetzt noch von dem, was dich der Leistungssport gelehrt hat?

Ja, definitiv. Ich habe im Biathlon gelernt, richtig zu trainieren. Ich regeneriere schneller, habe eine sehr gute Grundlagenausdauer, ich weiß aber auch, was es bedeutet, in den rote­n Bereich zu gehen. Auch mental profitiere ich davon. Ich habe gelernt, ehrgeizig zu sein, meine Ziele zu verfolgen und durchzuhalten, selbst wenn das Wetter nicht perfekt ist und einem alles wehtut. Manchmal wusste ich im Biathlon nicht, wie ich am nächsten Tag ein Rennen laufen soll, und bin dann doch wieder ganz oben gestanden. Das hilft mir natürlich auch beim Bergsteigen – wenn ich denke, ich kann nicht mehr, dann geht doch noch einiges.

In welchen Situationen ist das so?

Wenn der Fels viel brüchiger und schlechter zum Ab­sichern ist, als ich das erwartet habe, zum Beispiel. Da ist es dann sehr wichtig, die Füße wirklich sauber zu setzen und sich keinen Fehler zu erlauben. In diesen Momenten kommt mir manchmal schon der Gedanke, was ich da überhaupt mache und ob das jetzt unbedingt sein muss. Ich schaffe es dann aber, alles um mich herum auszublenden und nur in dem Moment zu sein. Wenn man danach mit seiner Seilschaft ganz oben steht, ist das ein ganz besonderes, intensives Gefühl.

Inzwischen kletterst du im 8. Grad. Das schafft man nicht ohne langes und gezieltes Klettertraining. Wie hast du das während der Biathlon-Karriere trainiert?

Im April hatten wir meistens vier Wochen frei, da bin ich regelmäßig zum Klettern gegangen. Bis Juli habe ich dann eine gute Kletterform aufgebaut, danach wurde es im Biathlo­­n sehr intensiv und ich habe meine Kletterform wieder verloren. Da war ich im Dilemma.

Laura, trainierst du jetzt noch spezifischer fürs Klettern?

Nein, eher nicht. Ich mache einfach das, was mir Spaß macht. Um eine wirklich gute Form aufzubauen, müsste ich mehr zum Sportklettern gehen. Aber die großen, langen Touren machen mehr Spaß. Die sind dann vielleicht einen Grad leichter, aber es ist das coolere Erlebnis.

»Die Herausforderung und die Konzentration auf eine Sache – das macht den Reiz aus.«

Du machst inzwischen durchaus extreme Touren, wie die Matterhorn-Nordwand oder den El Cap. Welche Route ist dir besonders im Gedächtnis geblieben?

Ein einschneidendes Erlebnis war die Petit Dru, eine markante Felsnadel über Chamonix. Durch die 1000 Meter hohe Westwand führt die »Directe Américaine« – eine Big-Wall-Tour mit einer berühmten 90-Meter-Verschneidung. Ich hätte nie gedacht, dass wir diese Tour machen. Mein damaliger Partner hat das vorgeschlagen und ich habe ihm gesagt, er würde spinnen, weil ich das nicht kann. Er hat mich dann überzeugt, dass man manche Sache­­n auch einfach versuchen muss. Ganz hundertprozentig bereit fühlt man sich für so eine Tour wohl nie.

Wie seid ihr die Sache angegangen?

Zunächst mit einem Ruhetag und genauer Planung von Taktik und Ausrüstung. Die Tour war dann härter als gedacht, besonders die Ausstiegslängen. Wir haben in der Wand biwakiert und hatten bis zum Gipfel am nächsten Tag noch vier Seillängen. Oben war Mixed-Gelände, recht kalt und ekelhaft zum Klettern. Wir mussten uns ziemlich durchkämpfen, aber es war ein megacooles Erlebnis. Mir hat das gezeigt, dass man in den Bergen auch mutig sein muss und kann. Man darf es aber nicht übertreiben und muss sich bewusst sein, dass man Risiken eingeht.

Wie gehst du mit Gefahren um?

Beim Klettern sind die Konsequenzen definitiv andere als im Biathlon. Du musst dich viel besser einschätzen können. Schon im Vorfeld ist das deutlich komplexer: Man muss alle möglichen Eventualitäten einbeziehen und dafür gerüstet sein. Jeder Fehler, egal ob beim Packen oder der Griffwahl, kann über dein Leben entscheiden. Manchmal wird mir das zu viel, dann mache ich wieder mehr Ausdauersport. Aber im Großen und Ganzen mag ich das total gern. Diese Herausforderungen und die Konzentration auf eine Sache – das macht für mich den Reiz aus.

Du bist auch bei der Bergwacht aktiv. Wurdest du schon zu wirklich ernsten Einsätze gerufen?

Zum Glück kommt das nicht so oft vor. Klar, wir trainieren immer für den Ernstfall und sind für schlimme Situationen ausgebildet. Toi, toi, toi – ich war meistens bei Unfällen, die glimpflich verlaufen sind, und musste zum Glück auch noch nie jemanden reanimieren.

»Bei der Bergwacht sagen sie, ich soll bitte Autogrammkarten einpacken.«

Wirst du da im Einsatz erkannt?

Ja, das passiert öfter mal. Bei der Bergwacht ziehen sie mich schon auf und sagen, ich soll doch bitte Autogrammkarten in den Rucksack packen. Einmal haben wir einen 80-jährigen Mann mit Kreislaufschwäche abgeholt. Es war ein wahnsinnig heißer Tag und er lag kreidebleich am Hang. Kaum, dass er meine Stimme gehört hat, hat er sich aufgerichtet und gerufen, dass das ja die Laura sei. Ganz spontan ist es ihm besser gegangen.

Nicht immer gehen Unfälle so glimpflich aus, auch aus deinem engen Freundeskreis sind schon Personen am Berg verunglückt. Laura, wie gehst du damit um?

Es ist wichtig, dass man hinschaut und darüber nachdenkt. Vor allem, wenn es gute Freunde sind, geht es einem natürlich nahe. In unserem Freundeskreis häufen sich leider Todesfälle oder auch schwere Verletzungen und Unfälle. Je mehr Zeit ich in den Bergen verbringe, umso größer ist natürlich das Risiko, dass auch mir etwas passiert. Selbst wenn ich meine Touren immer gut plane, bleibt ein Rest­risiko. Wir haben alle schon wilde Touren gemacht, wo etwas hätte passieren können. Interessant ist, dass Un­fälle meist nicht an den schwierigen Stellen passieren, sondern beim Abstieg, beim Abseilen oder nach der eigentlichen Tour. Das zu wissen, hilft natürlich – auf der anderen Seite ist es besonders traurig, wenn man sieht, dass ein lapidarer Fehler so krasse Konsequenzen haben kann.

Spielen die richtigen Partner auch eine Rolle?

Man muss sich zu 100 Prozent vertrauen, man ist schließlich in einer Seilschaft unterwegs. Zu diesen Partnern hat man eine viel engere Beziehung als zu den Menschen, mit denen man locker abends ausgeht. Mir ist es sehr wichtig, dass wir uns gut verstehen. Wir brauchen eine ähnliche Philosophie bei der Tourenplanung, Tourenlänge und Risiko­bewertung. Trotzdem sollten wir auch eine gute Zeit und Spaß miteinander haben.

Wo siehst du deine Stärken in den Seilschaften, Laura?

Ich habe früher immer gesagt: Ich kann gut tragen, also gebt mir das Seil für den Zustieg. Dann sind die Burschen ohne Seil gegangen und ich habe geschleppt. Tragen ist definitiv nicht mein Problem, dafür steige ich lieber mal hinten nach, wenn es schwierig wird. Ansonsten ist es mir schon am liebsten, wenn man in einer gleichwertigen Seilschaft klettert und sich die Führung teilt. Im Eis liegen meine Stärken definitiv nicht, da ist es ein großer Unterschied, ob ich Vor- oder Nachstieg klettere. Anders beim Skitourengehen: Da spure ich extrem gerne und bin am liebsten vorne.

Da hilft dir dann deine gute Ausdauer, die du ja auch immer noch trainierst?

An Ausdauersportarten mag ich weiterhin, dass sie eigentli­ch recht stupide sind. Man muss einen Fuß vor den anderen setzen, es kann nicht viel passieren. Und wenn ich nicht mehr kann oder keine Lust mehr habe, dann bleibe ich einfach stehen. Das brauche ich einfach als Ausgleich zu den Bergen.

»Ich habe schon noch ­einen gewissen Leistungssportgedanken.«

Daher auch deine Teilnahme bei der Berglauf-WM oder die Rennrad-Transalp an nur einem Tag?

Mich reizt es, wenn ich ein Ziel habe. Zum Beispiel die Radtour im letzten Sommer an den Gardasee. Meine Oma hat eine Ferienwohnung in Sirmione. Es war der Tag nach der letzten Uni-Prüfung. Da bin ich mitten in der Nacht nach Garmisch gefahren, habe meine Radsache­n gepackt und bin los. Die Strecke über den Brenner ist langweilig, deshalb bin ich übers Timmelsjoch gefahren. Das hat mir einfach gefallen. Ich war so unglaublich motiviert, die ersten zwei Stunden hatte ich ein permanentes Grinsen im Gesicht, obwohl es kalt und dunkel war und ich noch mehrere Hundert Kilometer vor mir hatte.

Schwingt da immer noch ein Leistungsdruck mit?

Ich habe schon noch einen gewissen Leistungssport­gedanken und überlege, was ich in welchen Umfängen trainiere. Aber ich kann dem manchmal mit dem Studium und der Arbeit fürs Fernsehen nicht gerecht werden und das ist dann auch okay. Es ist weniger Druck, aber ich schaue schon in meinem Trainingsbuch nach, was ich so alles gemacht habe. Hier sehe ich einen Unterschied zu Menschen, die nie einen Leistungssport gemacht haben.

Wie meinst du das?

Gerade die Kletterer, die ich kenne, sind einfach ein anderer Schlag Mensch. Ein Leistungssportler weiß, wie das Leben durchgetaktet wird, nur für den Sport. Wenn Kletterer mal drei Tage Zeit haben, dann wird drei Tage Vollgas gegeben. Danach stehen wieder lange die Arbeit oder etwas anderes im Vordergrund.

Apropos Ziele: Ist Skibergsteigen bei Olympia 2026 nicht ein Thema für dich?

Nein, das würde ich nicht schaffen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass das nicht das richtige Skibergsteigen ist. Ich frage mich manchmal, ob man diese Sportarten, die ja von der Freiheit in den Bergen leben, in das olympische System hineinpressen sollte. Versteht mich nicht falsch, ich gönne es jeder Sportart, olympisch zu werden. Ich habe ja Olympia erleben dürfen und es war für mich das Größt­e. Aber ich weiß nicht, ob es allen Sportarten guttut. Wenn man mit Motorsägen auf der Piste irgendwelche Hindernisse schneidet und die Athleten in einem Sprintkurs ihre Runden laufen, hat das nichts mit dem Skitourengehen zu tun, mit dem ich groß geworden bin.

Hast du dann andere Pläne für die Zukunft, Laura?

Aktuell tut sich so viel, ich entdecke ständig Neues, an dem ich Spaß haben könnte. Ich bin dank des ZDF noch mit Biathlon unterwegs und halte so Kontakt zu meinen Wurzeln. Dann studiere ich Sportwissenschaften, weil ich mich nicht auf dem alten Biathlon-Erfolg ausruhen will. Gleichzeitig habe ich mehr Zeit für die Berge – gerade führe ich das schönste Leben überhaupt.


Laura Dahlmeier (28)
Die Garmischerin hat 2 x Gold und 1 x Bronze bei den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang im Biathlon gewonnen, dazu sieben WM-Titel und den Gesamt­weltcup. 2019 hat sie ihre Biathlon-Karriere beendet. ­Zurzeit ist sie als TV-­Expertin für das ZDF im Einsatz und studiert Sportwissenschaften in München. 2019 nahm sie an der Berglauf-WM teil und 2022 war sie beim Skitourenrennen »Patrouille des Glaciers« am Start. Etwa 30 der 100 »Pause-Touren« aus dem legendären Kletterführer »Im extremen Fels« stehen inzwischen auch auf ihrem Konto.

Text: Nina Probst & Julian Rohn