Unsere Kolumnistin ist eine Multi-Outdoorsportlerin wie sie im Buche steht und – eh klar – am liebsten an der frischen Luft unterwegs. In der dritten Folge philosophiert sie über den Herbst.
Bis auf ein paar Ausnahmen habe ich mein Leben recht gut im Griff. Zu meinen Schwächen zählt – neben dem Iliosakralgelenk, Buchhaltung und Spitzkehren – der Herbst. Der Herbst betört mich und er verstört mich. In einem Moment öffnet er mein Herz und füllt es mit Glückseligkeit – bevor es zu stechen beginnt, weil die Melancholie hineindrängelt und ihren Platz beansprucht. Der Herbst spielt mit unseren Gefühlen, präsentiert uns Prächtiges und verkündet den Verfall. Wohin mit all den Emotionen? Am besten auf den Berg.
Der Herbst ist eine Gratwanderung. Er lässt uns nach vorne blicken und zurück. In die weite Ferne und tief hinab. Im Herbst bin ich häufiger allein auf Tour. Ich möchte weniger sprechen und mehr schauen. Mein Schritt ist langsamer, meine Gedanken schwerer. Der Herbst ist die Jahreszeit für die großen Fragen. Bin ich eins mit der Natur oder doch ganz allein auf dieser Welt? Ist alles gut, so wie es ist, oder soll man doch aufbrechen und den Ort suchen, wo nichts zu enden scheint? Wie umgehen mit Vergänglichkeit und Abschied? Was macht eigentlich Robert Smith von The Cure? Hat Mick Jagger mehr Kinder als Rod Stewart? (Ich habe noch am Gipfel nachgeschaut: beide acht Kinder von fünf Frauen.)
Ich habe im Herbst die Ahornbäume im Karwendel leuchten sehen – und in der Weite der Eng-Alm ist es mir ganz anders geworden. Ich habe die Fall Colors in den Wäldern von Concord erlebt (dort, wo Henry David Thoreau seinen Zurück-zur-Natur-Kracher »Walden. Or Life in the Woods« geschrieben hat). Da ist es mir ganz gewaltig anders geworden. Im Herbst saß ich auf einem Gipfel in Wales und erinnerte mich an Zeilen aus John Keats Ode an den Herbst. (Geschrieben 1819. Da war er 23. Zwei Jahre später war er tot. Tuberkulose.) Da ist es mir noch mal anders geworden.
»Der Herbst ist die Jahreszeit für die großen Fragen«
Der Herbst, er ist der Killer unter den Jahreszeiten. Er lässt die Natur sterben – und sie im Sterben ihren Reichtum entfalten. Jedes Blatt stirbt auf seine Weise. Das eine lässt sich früher fallen als das andere. Eines wird hellgelb an den Spitzen und tiefrot im Herzen. Ein anderes ocker, das nächste mokka. Wie so viel Individualität eine Harmonie ergibt. Die Natur, sie lebt es uns vor.
Im Herbst war ich zum Törggelen in Südtirol. Ich habe zu Schlutzkrapfen zungenlösenden Kerner getrunken. Da ist es mir ganz wohlig geworden. Im Herbst war ich entlang der Weinstraße in der Steiermark rennradeln. Nach dem zweiten Buschenschank-Besuch ist mir ganz warm geworden. Ich habe meine Rennradschuhe ausgezogen und das Rad summend geschoben. Die Socken haben nicht überlebt, die Erinnerung schon.
Im Herbst ist die Sonne nicht die, die sie noch vor ein paar Wochen war. Sie ist ein sanftes Licht, das alles intensiviert. Im Herbst sitze ich am Gipfel und zähle Berg-Silhouetten. Ich lasse mich fallen, liege in den Stoppeln, lasse Ameisen über meine Arme krabbeln, atme Erde, feucht und voll und modrig. Und dann steige ich ab. Im kühlen Tobel raschelt das Laub. Ein Wind kommt auf und plötzlich riecht es nach Schnee. Ja, der Herbst bringt die großen Fragen: Wann ist es Zeit, die Skier zu wachsen?
SISSI PÄRSCH
ist 44 und Autorin. Sie fährt Ski, geht Laufen und Biken und stammt aus dem Allgäu, zahlt viel Miete in München und ist doch meist auf Reisen. Sie mag Bewegung und Menschen sehr gern genauso wie Kaffee und Einkehren.