Es ist 22 Uhr. Ich stehe in Schwedisch-Lappland im Schnee am Fuße des Kebnekaise-Massivs. Meine Hände sind in zwei Paar Handschuhe verpackt und stecken zusätzlich in den Taschen meiner Daunenjacke. Um mich herum glitzern die Eiskristalle in der Luft und die Nacht taucht das Fjäll in Dunkelheit und Stille. Es ist mein Geburtstag. Doch anstatt einer Geburtstagskerze leuchten über mir am Himmel Polarlichter: grün leuchtende Schlieren, die stetig ihre Form wechseln – wunderschön! Neben mir steht meine Schwester Annkatrin, ihre Wangen gerötet von sieben Tagen im kalten Fjäll.
Doch der Reihe nach: Es ist Mitte März, also tiefster Winter hier in Lappland. Vor wenigen Tagen sind wir am Flughafen in Kiruna angekommen. Unser Ziel: der nördliche Teil des Kungsleden. Die Strecke zwischen Abisko und Nikkaluokta wollen wir auf Backcountry-Skiern zurücklegen. Wir sind zu viert: Henning, Karl, meine Schwester und ich – für mich ist es die erste Wintertour.
Abisko-Fjällstation: Startpunkt der Tour
Von Kiruna aus geht es für uns per Zug zur Abisko-Fjällstation, dem Startpunkt der Tour. Eine dicke Schneeschicht bedeckt die Ansammlung kleiner Häuser und das Haupthaus lockt mit einer warmen Stube und Heißgetränken. Wir bleiben die erste Nacht hier, da es zu spät ist, um noch zu starten. Wir beziehen eins der kleinen Häuschen, packen unsere Rucksäcke noch ein paar Mal um und kochen Wasser für unsere Thermokannen, bevor es ins Bett geht.
Nach einem gemütlichen Frühstück mit Blick ins Fjäll machen wir uns auf den Weg. Das Tagesziel: Abiskojaure. Unsere Route besteht aus sieben Etappen, für die wir entspannte neun Tage Zeit haben. Denn wir wollen die Tage im Fjäll voll auskosten und bei schlechtem Wetter auch mal einen geruhsamen Pausentag einlegen können. Wir übernachten in den rustikalen, aber gemütlichen Hütten des STF (Svenska Turistföreningen, auf Deutsch: der Schwedische Touristenverein).
Strahlender Sonnenschein am Kungsleden
Unsere Tour ist von starken Wetterwechseln geprägt, doch an den ersten beiden Tagen begrüßt uns das Fjäll mit blauem Himmel und besten Schneekonditionen bei eisigen Temperaturen. Unsere Ski gleiten nur so über den Schnee und die Tagesstrecke ist schnell gemacht. Der ein oder andere harmlose Sturz, ausgelöst von dem ungewohnten Gewicht des 65-Liter-Rucksacks auf meinen Schultern, sorgt für Erheiterung. Wir lachen viel und nutzen die Zeit, um im strahlenden Sonnenschein einen Becher Tee zu trinken. Um uns herum verändert sich die Landschaft: Schon bald sind keine Bäume mehr zu sehen. Nur noch das scheinbar endlose Weiß des höheren Fjälls am Horizont.
Abends in der Hütte genießen wir eine der besten Annehmlichkeiten, die das schwedische Hüttensystem zu bieten hat: die Sauna! Neben uns vieren sind auch sieben ältere Norweger in der Hütte. Sie erzählen uns, dass sie seit beinahe 50 Jahren immer wieder im Winter auf den nördlichen Kungsleden zurückkehren. Allerdings benötigen sie für die Strecke kaum fünf Tage. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie viel davon Seemannsgarn ist, denn für so ein ambitioniertes Vorhaben trinken sie abends noch reichlich viel Schnaps. Als wir am nächsten Morgen die Hütte verlassen, schlafen die Norweger erwartungsgemäß noch tief und fest. Nur eine Stunde später laufen sie in einem Wahnsinnstempo auf ihren alten Holzlanglaufski fröhlich winkend an uns vorbei – eine beeindruckende Leistung.
Spektakuläre Polarlichter als Belohnung
Als wir am zweiten Tag erschöpft von der längsten Etappe der Tour in Alesjaure ankommen, braut sich in der Ferne ein Sturm zusammen. Doch über der Hütte sind noch die Sterne zu sehen und wir werden für die Anstrengungen des Tages mit spektakulären Polarlichtern belohnt. Gegen 23 Uhr erreicht der Sturm dann auch Alesjaure und nimmt im Laufe der Nacht immer weiter zu.
Am nächsten Morgen erwachen wir vom lauten Getöse des Windes und beim Blick aus dem Hüttenfenster sehen wir nichts als undurchdringliches Weiß. Selbst das nahe Klohäuschen ist nicht mehr zu erkennen. Weiterlaufen ist bei so einem Wetter keine Option, also machen wir einen Pausentag auf der Hütte. Natürlich muss trotzdem weiter Holz für den Ofen gehackt und Wasser zum Kochen aus dem Wasserloch geholt werden, so stapfen wir immer mal wieder hinaus in den Sturm und spüren am eigenen Leib, mit wie viel Kraft er an allem zerrt, was ihm in den Weg kommt.
Am Nachmittag lädt uns der Hüttenwart in sein Häuschen ein, denn unser unfreiwilliger Pausentag fällt genau auf den schwedischen Waffeltag. Ein, wie auch wir finden, sehr wichtiger Tag, der nur wegen eines »kleinen« Schneesturms natürlich nicht ausfallen darf. So genießen wir gemeinsam mit den anderen Winterwandernden Waffelkekse und heißen Saft, während der Hüttenwart uns spannende Geschichten aus Alesjaure erzählt. Selbstverständlich geht es abends auch wieder in die mit Holz geheizte kleine Sauna.
Kungsleden samt Elchen und Schneehühnern
Hinter Alesjaure begegnen uns die ersten Wildtiere. Wir sehen einen Elch und zahlreiche Schneehühner, die sich in ihrem weißen Federkleid so gut im Schnee tarnen, dass wir sie erst dann bemerken, wenn sie mit ihrem unverkennbaren, aufgeregten Schreien aufflattern. Der Sturm hat nachgelassen und wir können die roten Wegmarkierungen gut erkennen.
»Das Wetter im Fjäll ist unberechenbar!«
Doch das Wetter im Fjäll ist sehr unberechenbar: Nur zwei Stunden später kämpfen wir uns bei extremem Gegenwind die steile, wenn auch kurze Strecke zur Tjäktjahütte hoch. Ich fluche leise vor mich hin, denn es fühlt sich an, als ob ich für jeden gewonnenen Meter auch wieder einen halben zurückrutsche. Bergaufgehen mit Skiern und vollbepacktem Rucksack auf vereistem Schnee ist schwerer als gedacht! Trotzdem kommen wir zeitig in Tjäktja an, denn aufgrund des ungemütlichen Wetters machen wir keine Pausen. Alle sind sich einig: bloß schnell ins Warme!
Tags darauf ist das gute Wetter wirklich zurück und nachdem der Aufstieg über den Tjäktjapass, den höchsten Punkt der Tour, geschafft ist, gleiten wir die schöne lange Abfahrt nach Sälka hinab. Das Fjäll wirkt nun ruhig und friedlich, ganz anders als am Tag zuvor. In Sälka übernachten auch einige Musher, schon aus der Ferne sehen wir ihre roten Zelte und die Hundeschlitten. Wir genießen das tolle Wetter und den klaren Blick auf die frisch eingeschneiten Berge um uns herum.
Schnelle Wettwechsel im Fjäll
Unzählige herumwirbelnde Schneekristalle lassen die Konturen um uns verschwimmen und schmelzen auf unseren Gesichtern, nur um direkt wieder zu gefrieren. Eiskristalle wachsen an unseren Wimpern, um unseren Mund herum und an unserer Kleidung. Die großen roten Kreuze, die uns den Weg weisen, sind verschwunden. Das Wetter ist schon wieder umgeschlagen und so stehen wir kurz vor Singi in einem kompletten Whiteout. Normalerweise würden wir unser Notzelt aufschlagen und das Unwetter abwarten. Doch wir wissen, dass die Hütte keine Stunde entfernt sein kann, und es ist bitterkalt.
Der Wind formt den Schnee vor uns in aberwitzige Formen und tiefe Kuhlen entstehen, die in dem flimmernden Weiß-Grau erst im letzten Moment erkennbar sind. Henning geht voran und holt das GPS-Gerät hervor, um uns zur Hütte zu führen. Plötzlich sehen wir ihn nicht mehr – er ist in eine der Kuhlen gefallen. Der Schnee ist weich und das Loch nicht allzu tief, aber seine Thermokanne ist im Schneesturm nicht mehr auffindbar. Der tiefe Schnee hat sie verschluckt und somit auch ihren wärmenden Inhalt. Wir hoffen, dass sie nach der Schneeschmelze vielleicht von jemandem gefunden wird, dem sie noch gute Dienste leistet …
Keine Verbindung per Satellitentelefon
In Singi türmt sich der Schnee vor den Fenstern und die Skier klappern im Sturm gegen die Hauswand. Es ist unheimlich gemütlich in der kleinen Hütte und die Strapazen des Tages sind schnell vergessen.
Unsere Kleider trocknen im Trockenraum und der gusseiserne Ofen bollert in der Stube. Der riesige Hirtenhund des Hüttenwarts freut sich über unsere Gesellschaft. Doch als ich dem Hüttenwart das Geld für die Nacht geben möchte, kann ich mein Portemonnaie nicht finden. Erst befürchten wir, es sei wie Hennings Thermoflasche im Whiteout verlorengegangen, aber schnell rekonstruiere ich, dass es nur in Sälka geblieben sein kann. Leider ist keine Verbindung über Satellitentelefon zwischen den beiden Hütten möglich und so können wir niemanden um Hilfe bitten. Ich muss mir für die Rückreise wohl meinen Reisepass aus Deutschland per Express nach Kiruna zum Flughafen schicken lassen. Am nächsten Tag kommen uns zwei Wanderer entgegen. Sie bieten mir an, in Sälka den Hüttenwart über mein Missgeschick zu informieren. So könnte eine auf uns folgende Gruppe Skifahrer mein Portemonnaie mit zur Kebnekaise-Fjällstation, unserem heutigen Tagesziel, nehmen.
Geburtstag in Nikkaluokta
Besagte Fjällstation ist sehr betriebsam mit all den Berg- und Wintersportlern, die von hier aus zu Tagestouren aufbrechen oder den Kebnekaise, mit 2097 Metern Schwedens höchster Berg, besteigen wollen. Wir haben noch einen Pausentag übrig und beschließen, für meinen Geburtstag hier zu bleiben. Die letzte Etappe in die samische Siedlung Nikkaluokta ist zwar die zweitlängste der Tour, folgt aber einer einfachen Schneescooterspur, die das Laufen leicht macht. Auch bei schlechtem Wetter ist sie gut zu bewältigen. So verbringen wir meinen Geburtstag mit einem Saunabesuch und anschließendem Essen in der komfortablen Fjällstation.
Während wir in den gemütlichen Sesseln am Feuer einen Kaffee trinken, ruft plötzlich jemand vom Eingang her meinen Namen. Erst reagiere ich nicht, denn wer soll mich hier schon rufen – und Malin ist schließlich ein häufiger Vorname in Schweden. Doch ich bin eindeutig gemeint und als ich in den Eingangsbereich trete, steht dort eine Frau, die mir berichtet, dass »Aaron der Musher« mit seinem Hundegespann und meinem Portemonnaie auf dem Weg nach Nikkaluokta sei.
Kungsleden als gute »erste Wintertour«
Als wir am nächsten Nachmittag in der kleinen Siedlung eintreffen, wartet dort tatsächlich mein Portemonnaie auf mich – mit besten Grüßen von Aaron. Die Freude ist groß und der Rückflug gesichert. Dank der »schwedischen Fjällpost« habe ich meinen Ausweis nach zwei Tagen wieder. Der Umschlag mit meinem teuer per 48-Stunden-Express versandten Reisepass kam übrigens erst zehn Tage später am Flughafen in Kiruna an …
»Durchgehend markiert, jeden Abend eine gemütliche Hütte – der Kungsleden eignet sich perfekt als erste Wintertour.«
Malin Klein
Der nördliche Kungsleden eignet sich hervorragend als »erste Wintertour«, da er durchgehend markiert ist und man jeden Abend in einer urigen Hütte übernachten kann – oft inklusive Sauna. Er zeigt das schwedische Fjäll von seiner schönsten Seite. Nach dieser Tour folgten für mich viele weitere Winterabenteuer zusammen mit meiner Schwester. Doch der Kungsleden mit seiner weiten Landschaft, seinem Kahlfjäll, dem prächtigen Kebnekaise-Massiv und den weiten Tälern zieht uns immer wieder in seinen Bann – vor allem im Winter.