Drei Sachen vorneweg: Erstens: Ich komme aus dem Harz. Zweitens: Ich bin nicht schwindelfrei. Drittens: Obwohl ich jahrelang mit einem Kletterhallenbesitzer und Vollblut-Bergfex in einer Zweier-WG gewohnt habe, sind Klettergurt, Abseilachter und austrainierte Athletenkörper für mich böhmische Dörfer. Warum? Siehe zweitens.
Trotzdem schaue ich für mein Leben gern Bergsteigerfilme mit so vielversprechenden Titeln wie »Sturz ins Leere« oder »Am Rande des Abgrunds«. Auch »Meru«, »The Dawn Wall«, »Everest« und allen voran Alex Honnolds »Free Solo« entfachen bei mir mehr Gänsehaut als jeder Horrorfilm. Diesem Wandeln auf messerscharfen Graten und in der berühmt-berüchtigten Todeszone bringe ich dabei alle Hochachtung entgegen, die die Protagonisten sich hart verdient haben. Und immer schwingt bei mir – trotz zweitens – die bange Frage mit: Wie weit würde ich im Hochgebirge kommen? Wo endet die Komfortzone? Was kann der Körper, wenn der Geist willig ist? Oder falle ich schon vor dem Basislager einem Höhenödem zum Opfer?
A wie Akklimatisierung
Immer öfter ertappe ich mich daher dabei, wie ich das Programm von Bergschulen auf der Suche nach einer Art Schnuppertour durchstöbere. Ein Viertausender für Dummies sozusagen. Beim Schweizer Unternehmen »Höhenfieber« logge ich schließlich ein: »Rund um die Monte Rosa«. Von Saas-Fee bis Zermatt. Die Tour ist zwar »nur« als Gletschertrekking tituliert, da man nicht jeden Tag in eisigen Höhen unterwegs ist, doch für mich Flachlandtiroler, der noch nie Steigeisen an den Füßen und einen Eispickel in der Hand hatte, ist es in jedem Fall hoch genug.
Das Anforderungsprofil der Tour scheint mir ideal: Technik 0 von 4, Kondition 2 von 4. Letzteres liegt vor allem daran, dass sich die Tour der vorhandenen Auf- und Abstiegshilfen in Form von Seilbahnen und Bussen bedient. So halten sich die Höhenmeter halbwegs in Grenzen und es bleibt noch etwas Reserve, wenn man im technischen Gelände mit der ungewohnten Ausrüstung hantiert und auf Gletscherbrücken über Abgründe wandelt.
Das A und O beim Bergsteigen nahe der persönlichen Todeszone ist natürlich die Akklimatisierung. Daran scheitern sogar die Besten immer wieder. Aber auch in diesem Punkt trifft die Monte-Rosa-Runde genau den Ton. Geschlafen wird auf 3027 Metern, 2738 Metern, 1575 Metern, 3498 Metern und 2883 Metern. Also rauf, runter und richtig rauf. »Climb high, sleep low« sagen die Experten. Die Unterkünfte heißen Britanniahütte, Hotel Zumstein, Rifugio Pastore, Rifugio Mantova und Monte-Rosa-Hütte. Letztere steht schon lange auf der Liste der Orte, die ich unbedingt mal in echt erleben möchte. Entworfen von der ETH Zürich, thront der oktogonale Würfel seit September 2009 hoch über dem Gornergletscher bei Zermatt. Den Umkreis der Hütte bilden die Viertausender Castor, Pollux, Liskamm und die Dufourspitze, Richtung Westen fällt der Blick direkt auf das Matterhorn. Wirklich sehr schön. Und noch was zum Klugscheißen für angehende HöhenbergsteigerInnen am Hüttenstammtisch: Den Berg Monte Rosa selbst sucht man auf der Karte vergeblich. Der Name ist schlicht Oberbegriff für das höchste Gebirgsmassiv der Schweiz, daher heißt unsere Tour ja auch »um die« und nicht »um den«.
Into thin air
Nachdem die ersten drei Tage eher unter »Einlaufen« in atemberaubender Berglandschaft zu verbuchen waren, geht es an Tag vier in die Vollen: Von Alagna schwebt unsere Gruppe per Lift auf 3260 Meter. Dort ziehen wir erst mal die Steigeisen an und nehmen den Eispickel in die Hand. Tagesziel ist das Rifugio Mantova auf 3498 Metern, welches wir am frühen Nachmittag erreichen. Um der Erwärmung im Tagesverlauf zu entgehen, die die Steinschlaggefahr erhöht und die Trittfestigkeit des Schnees senkt, startet man stets vor dem ersten Schneehuhnschrei, liegt bestenfalls nach dem Mittag in der Sonne, füllt die Energiespeicher auf und bereitet sich mental auf den Gipfeltag vor, der einen erstmals über die Viertausender-Marke führt.
»Im Licht ihrer Stirnlampen ziehen Dutzende Seilschaften auf der Spaghetti-Route durchs Schattenreich der Eisriesen.«
Dieser Gipfeltag steht am fünften Tag an und toppt alles, was die ohnehin sehr beeindruckende Tour zu bieten hatte. Nachdem wir uns noch am Vortag in der Gruppe mit dem Gehen am Seil vertraut gemacht haben, klingelt um halb fünf der Wecker. Bei uns im Fünfbettzimmer – und in nahezu allen anderen Zimmern auch. Zum Ausschlafen scheint das Rifugio – wie so viele im Hochgebirge – nicht gemacht. Schnell noch ein italienisches Frühstück (gut, wer noch einen Müsliriegel extra dabei hat), die Thermosflasche gefüllt und raus aus dem Trubel, rein in die Kälte des Morgens. Im Osten kündet ein feiner Schimmer davon, dass die Sonne sich noch im Bad frisch macht, während letzte Sterne am wolkenlosen Himmel langsam verschwinden.
Bergführer Tom kennt die Komfortzonen seiner Kunden und weiß, wie er noch ein paar Extra-PS herauskitzeln kann. Einladend: die Monte-Rosa-Hütte. Eingenebelt: das Matterhorn links im Bild.
Oberhalb der Hütte sieht man bereits ein Dutzend Seilschaften, die im Schein der Stirnlampen über den Gletscher bergwärts streben. Dieser Teil des Monte-Rosa-Gebiets zählt zur berühmt-berüchtigten Spaghetti-Route. Diese startet in Zermatt und reiht zehn leichte Viertausender aneinander. Übernachtet wird meist jenseits der Grenze in Italien, wo es auf jeder Hütte wohlschmeckende Pasta-Gerichte gibt.
Unser erstes Ziel ist die Vincent-Pyramide, stolze 4215 Meter hoch. Da der letzte Neuschnee schon eine Weile her ist, können wir uns die Spurarbeit sparen. Kann auch mal ganz angenehm sein, ausgetretenen Pfaden zu folgen. Das Gehen am Seil erfordert ein bisschen Übung, will man vermeiden, dass selbiges und die Steigeisen eine unheilvolle Bekanntschaft machen. Auch Trödeleien werden schnell aufgedeckt – durch einen vehementen Zupfer des Vordermanns am Seil. Aber Bergführer Tom hat ein gutes Gespür für die Leistungsfähigkeit der Gruppe und dosiert das Tempo so, dass niemand seine Komfortzone länger als nötig verlassen muss. Allein an eines kann ich mich nicht gewöhnen. Immer wieder sieht man Seilschaften, bei denen einer neben die Spur austritt, die Hosen runterlässt und sein Geschäft verrichtet. Klar, einen Busch findet man hier oben eh nicht und im spaltenreichen Gelände lässt einen der verantwortliche Bergführer einfach nicht von der Kette respektive vom Seil, doch da riskiere ich lieber eine Verstopfung.
Der guten Akklimatisation und dem steten Konditionsaufbau der letzten Tage sei Dank, erreichen wir gegen acht Uhr die Vincent-Pyramide. Check, mein erster Viertausender. Hat gar nicht wehgetan. Von hier fällt der Blick auf den gewaltigen Talkessel an der Südseite des Monte-Rosa-Massivs. Da unten, in Macugnaga, im Tal der Anza, sind wir vorgestern noch gewesen. Es scheint einen Steinwurf entfernt, und doch trennen uns Welten von diesem beschaulichen Piemonter Bergdorf.
RUND UM DIE MONTE ROSA
Die vorgestellte Tour kann man auch 2021 bei der Bergschule Höhenfieber buchen. Die Wanderung beginnt in Saas-Fee und endet nach intensiven sechs Tagen im Bergsteigerdorf Zermatt. Start wie Ziel erreicht man bequem mit der Schweizer Eisenbahn. Die täglichen Anstiege liegen bei moderaten 150 bis 1400 Höhenmetern im Aufstieg, übernachtet wird auf einfachen Berghütten in Mehrbettzimmern.
Ausrüstung
Alpiner Tourenrucksack der 50-Liter-Klasse, Klettergurt, Steigeisen, Eispickel, steigeisenfeste Bergstiefel, 2 x Jacke und Hose, einmal aus Hardshell, einmal aus Softshell, Sonnenhut, Sonnencreme, Gletscherbrille, leichte Handschuhe, Hüttenschlafsack, Hüttenschuhe.
Infos
Termine, Buchung und Preise unter www.hoehenfieber.ch (Kursnummer 72701).
Kein Name für die Geschichtsbücher
Als nächstes Etappenziel folgt das Lisjoch, 4152 Meter. Es markiert den Übergang in die Schweiz, doch ein Schild, geschweige denn einen Schlagbaum, sucht man hier oben natürlich vergeblich.
Da die Moral der Truppe gut ist, hängen wir vor dem Abstieg noch die Ludwigshöhe dran – sie ist noch mal 130 Meter höher als die Vincent-Pyramide. Hier müsste allerdings der Namensgeber nachträglich in die Pflicht genommen werden, denn für einen derart alpinen Höhepunkt klingt Ludwigshöhe definitiv nicht heroisch genug.
»Schon der Anblick dieser abgrundtiefen Gletscherspalten lässt frösteln – und da soll man drüberspringen?«
Im Anschluss machen wir uns an den Abstieg zu meiner Sehnsuchtshütte. Vorbei an der Eisflanke des Liskamms geht es über den Grenzgletscher Richtung Monte-Rosa-Hütte. Hier zeigt uns das Hochgebirge in Form eines ordentlichen Spaltenlabyrinths noch mal richtig die Zähne. Immer wieder enden wir vor einem unüberwindbaren Abgrund und müssen umdrehen, einen anderen Weg suchen. Ab und zu gibt es keinen, nur eine Brücke aus Altschnee, übrig geblieben vom letzten Winter. Mal ist diese eindeutig zu sehen, mal gibt sie sich auch erst zu erkennen, wenn man links oder rechts von der Spur mit dem Trekkingstock ins Bodenlose pickt. Alles in allem ist das mit Abstand der aufregendste Teil der Tour. Damit ich Fotos machen kann, hat mich Bergführer Tom ganz hinten ins Seil gebunden. Ich vertraue darauf, dass eher der Erste als der Letzte einbricht, muss mir aber eingestehen, dass der Letzte in Sachen Gewicht in unserer Seilschaft wohl der Erste ist.
So bin ich ziemlich erleichtert, als ich wieder Fels statt Schnee unter den Füßen habe. Die Steigeisen können in den Rucksack, der letzte Kilometer bis zur Monte-Rosa-Hütte verläuft über Felsplatten und die eine oder andere Endmoräne.
Wie auf rohen Eiern
Als wir am frühen Nachmittag dort einchecken, scheint die Sonne aus allen Knopflöchern und es bleibt viel Zeit, die einmalige Lage der Hütte und die Hütte selbst zu genießen. Da es bis zum Abendessen noch lang ist, bestellen wir erst mal eine Portion Nudeln nach Art der Hütte (für 18 Franken) und stoßen mit einem kühlen Calanda (nur 6 Franken) auf die erfolgreiche Königsetappe an – nicht ahnend, dass die Tour noch ein Ass im Ärmel hat.
Besser als Lagerfeuer-TV: Gletschergucken auf dem Sonnendeck. Jetzt aber – auf der letzten Etappe grüßt endlich das Matterhorn (oder Horu, wie die Schweizer sagen). Wenn sich das Matterhorn in Wolken hüllt, muss halt der Vordergrund »performen«.
Denn der Marsch von der Hütte bis nach Zermatt führt größtenteils über den Gornergletscher, der im Sommer allein aus Blankeis besteht. Und wer je das Vergnügen hatte, mehrere Kilometer auf Blankeis zu laufen, der weiß, was für einen fabelhaften Muskelkater das verursachen kann. Keine Fläche ist eben und immer gilt es, die Körperspannung zu halten, falls das Steigeisen doch keinen Halt auf dem harten Eis findet. Hinzu kommt die permanente Konzentration auf den nächsten Schritt. Dafür belohnt uns der Gletscher mit fantastischen Einblicken in sein bewegtes Innenleben und grandiosen Ausblicken auf die wie gemalt wirkende Bergwelt drum herum.
Als wir am Nachmittag des sechsten Tages im schönen Zermatt einlaufen, könnte die Laune nicht besser sein. Was für eine Tour! Und was für ein Muskelkater. Mit drei Viertausendern in der Tasche und einem Rucksack voller Erinnerungen trete ich die Heimreise per Bahn an. Und Bergsteigerfilme, so viel ist sicher, sehe ich künftig mit Kennerblick 😉
DAS NEHM ICH MIT
Alles für deinen nächsten Gipfelsturm
MICHAEL NEUMANN
Was kommt nach Brocken und Monte Rosa? Der GM-Chefredakteur wälzt schon wieder Bergschul-Prospekte.