Mir ist kalt. Ich bin nass. Das Wasser kommt aus allen Richtungen. Von oben, von unten, gleichzeitig läuft mir der Schweiß über die Haut. Meine Hände tun weh, meine Arme und mein Hintern. In diesem Zustand weiterzumachen, kostet Überwindung, aber ich habe keine andere Wahl. Denn mit unseren Kajaks sind wir noch Kilometer weit vom nächsten möglichen Zeltplatz entfernt.
Für Abenteurer mag das alles normal sein. Ich bin das erste Mal mit meinem Kajak-begeisterten Freund Eike auf Tour in Norwegen. Eike hat schon viele große Kajaktouren gemacht, aber für mich ist alles neu. Das heißt: In den nächsten zwei Wochen stehen für mich mehr Paddelkilometer auf dem Plan als ich bisher jemals in einem Boot verbracht habe.
Diese Reise stellt von Anfang an einen Kompromiss dar. Aber so richtig klar wird uns das erst unterwegs. Unsere Vorstellungen von Urlaub sind von Grund auf verschieden. Zwischen unseren Paddelskills liegen Welten. Aber den größten Unterschied macht unsere Einstellung.
Für Eike ist Draußen eine Religion. Die offene Landschaft und das Meer sind für ihn Orte der Sehnsucht. Ich finde sie schön. Punkt. Eike geht es darum, sich selbst etwas zu beweisen, ein Ziel zu erreichen, einen Berg zu bezwingen, eine Wetterlage zu überstehen. Für mich birgt das Reisen neben Einblicken in andere Kulturen auch spannende Erlebnisse, aber nicht das Maß von Unannehmlichkeiten, dass diese Tour mit sich bringt.
Arbeit im Urlaub?
Von Bergen aus starten wir nach Süden. Unser Ziel ist es, einmal die Insel Tysnes mit dem Kajak zu umrunden, um dann nach Bergen zurück zu paddeln. Unser Tagessoll liegt zwischen 15 und 25 Kilometer. Das bedeutet für mich fünf bis sechs Stunden strammes Paddeln. Während Eike scheinbar mühelos dahin gleitet und sich völlig in der Schönheit der Landschaft verlieren kann, fällt es mir viel schwerer, abzuschalten. Die felsige Küstenlandschaft mit ihren kleinen Inseln und hübschen Holzhäusern zieht an uns vorbei. Trotzdem wird mir langweilig von der Monotonie der Bewegung, und gleichzeitig ist es anstrengend, alle Techniktipps im Kopf zu behalten. Mir kommen Zweifel. Finde ich Outdoorurlaub doch gar nicht schön? Bin ich gar nicht so tough, wie ich dachte?
Doch schon unser erster Zeltplatz hebt meine Stimmung. Eine Insel ganz für uns allein. Wir klettern auf den größten Felsen und genießen die letzten warmen Strahlen der Sonne. Vor uns liegen mehrere kleine Inseln und nur noch wenige Häuser. Ich könnte gut noch ein wenig verweilen und gucken, aber es gibt Arbeit.
Urlaub mit dem Kajak stellt sich als ein einziger Packmarathon heraus. Die wenigen Sachen, die in dem Boot Platz finden, müssen jeden Morgen mühsam hineingezwängt werden, nur um ein paar Stunden später wieder ausgepackt zu werden. Und wenn dein Mittagessen dann hinter dem Schlafsack, den Klamotten, dem Kocher und dem Buch liegt: Pech gehabt.
Irgendwann steht das Zelt und im Kocher blubbert das Nudelwasser. Schon der erste Tag hat mich ganz schön geschafft. Doch das soll natürlich noch nicht alles sein.
Man hätte damit rechnen können, dass man in einer der regenreichsten Regionen Europas auch mal nass werden kann. Schon am dritten Tag kämpfen wir uns durch dicke Tropfen vorwärts. Dass heißt immerhin, ich kämpfe. Während Eike mit der Kamera in der Hand Runden um mich dreht, muss ich mir jeden Meter hart erarbeiten. Aber irgendwie fühlt es sich auch gut an. Spätestens wenn ich erschöpft im Zelt liege, bin ich auch ein bisschen stolz auf mich.
Abwettern auf Strøno
Dennoch ist hier für uns mittendrin erstmal Schluss. Das Wetter ist so schlecht, dass wir entscheiden, ein Basislager zu errichten und einfach zwei Tage lang den Regen auszusitzen. Der Naturpark Ervikane auf der Insel Strøno stellt sich dabei als echter Glücksgriff heraus. In voller Regenmontur streifen wir durch den Wald von einer wunderschönen Bucht in die nächste. Dass ich hier die Zeit finde, auch mal ein paar Seiten aus meinem Krimi zu verschlingen, tut mir gut.
Eike akzeptiert schnell, dass mit mir die Pause einfach notwendig ist. Also sucht er sich mit seiner Angel eine neue Herausforderung. Gut, dass wir auch ohne Fisch am Abend satt werden, denn der bleibt erstmal aus.
Unsere Route führt uns weiter in die Äußeren Schären. Als wir einmal plötzlich der offenen Nordsee gegenüberstehen, merken wir, dass das keine gute Idee ist. Die Wellen sind definitv eine Nummer zu groß für mich. Das Handling des Kajaks fällt mir immer noch schwer. Zuhause haben wir einige Male auf der Kieler Förde geübt. Auch die Eskimorolle hat mir Eike im Schwimmbad beigebracht. Aber hier draußen bei Seegang und zwischen Felsen scheint mir das plötzlich unmöglich.
Also flüchten wir zurück in den Schutz der Inseln. Hier draußen ist es zudem schwierig, einen Platz zum Schlafen zu finden. Nach 30 Kilometern bin ich so erschöpft, dass wir unser Zelt bei ein paar freundlichen Norwegern im Garten aufschlagen. Wir werden von der ganzen Familie begrüßt und hören Geschichten von der Arbeit auf den Fischtrawlern. Das interessiert auch Eike und wir verlassen die Insel mit viel wertvollem Wissen über die Fische der Region.
Unser Kompromiss wächst langsam zu einem wunderschönen Urlaub heran. Wir haben inzwischen gelernt, einander zuzuhören und aufeinander Acht zu geben. Als wir den Hardanger Fjord erreichen, bin ich endgültig von unserem Paddelurlaub überzeugt. Ein paar Schweinswale jagen uns die Makrelen fast bis ins Boot, so dass wir am Abend auf der kleinen Insel Anuglo östlich von Onarheim von ein paar Norwegern lernen können, wie man sie perfekt über dem Feuer zubereitet. Wir fragen sie, wie sie mit der Pandemie zurechtkommen, aber das ist für die Norweger kein Thema. Das Land hat in der ersten Welle früh seine Grenzen geschlossen, ist dünn besiedelt und verzeichnet so nur wenige Infektionen. Da wir ohnehin nur sehr wenige Menschen unterwegs treffen, können wir so das Thema Corona für drei Wochen fast aus unseren Köpfen verbannen.
Wir verbringen im Südwesten von Tysnes einige der schönsten Abende. Dass es inzwischen wärmer und trockener ist hilft natürlich, aber vor allem haben wir endlich in unseren Flow gefunden. Mein Kopf hat Ruhe gegeben. Nichts lenkt mich mehr davon ab, die Umgebung zu genießen. An manchen Abenden liege ich noch lange wach und kann mich plötzlich nicht mehr vom freien Himmel losreißen, der Reißverschluss des Zelteingangs bleibt auf.
Im Frühtau zu Berge. Und durch den Sumpf.
Bevor wir den Rückweg antreten, wollen wir noch etwas die andere Körperhälfte bewegen. Der höchste Berg der Insel, der Tysnessata scheint dafür perfekt geeignet zu sein. Also lassen wir unsere Kajaks in der Obhut von ein paar netten Ferienhausbewohnern und machen uns an den Aufstieg. Für Wanderstiefel war in meinem Boot kein Platz mehr, deswegen geht es für mich in Sneakern Richtung Gipfel. Doch spätestens zwei Stunden später, als mir der Matsch bis zu den Knöcheln steht, bereue ich diese Entscheidung. Wir wollten die Herausforderung, haben uns für den längeren und weniger bekannten Weg entschieden und sind damit gescheitert. Nach einer weiteren Stunde müssen wir aufgeben, denn wir haben uns verlaufen.
Nachdem wir uns so vieles erarbeitet hatten, fühlt sich dieser Rückschlag für mich besonders hart an. Deshalb versuchen wir es am nächsten Tag auf einer anderen Strecke. Endlich auf dem Gipfel angekommen, können wir fast alle Stationen unserer Route um die Insel erblicken. Hier wird mir noch einmal bewusst, wie viel ich geschafft und gelernt habe. Und das wird gefeiert! Denn in dem kleinen Örtchen Myrdal Gard, in dem der Wanderweg beginnt und endet, gibt es die beste Pizza mit Käse aus der hofeigenen Molkerei. Was für eine Belohnung!
Als wir uns wieder auf den Weg zurück nach Bergen machen, bin ich voller Energie. Unser kleines Abenteuer hat mich zwar teilweise an meine Grenzen gebracht und ich war sicherlich nicht an jedem Tag davon begeistert, wie umständlich Reisen mit dem Kajak sein kann, aber Eikes Sehnsucht nach Draußen kann ich inzwischen verstehen.
Mehrere Tage unter freien Himmel zu verbringen, löst in mir eine Ruhe und Zufriedenheit aus, die ich vorher nicht kannte. Und auch meine Bereitschaft zu neuen Abenteuern hat sich verändert. Schranken in meinem Kopf haben sich abgebaut. Zu nass, zu kalt, zu weit sind plötzlich keine Argumente mehr, wenn man einmal erlebt hat, dass es doch geht.
Und auch gemeinsam sind wir als Paar gewachsen, denn wir konnten all diese Erfahrungen miteinander teilen.