Drei Tage hat es geregnet oder geschneit. Meine Füße sind dreckig und verschrumpelt wie nach einem zu langen Bad. Die Gore-Tex-Membran meiner Schuhe ist hoffnungslos zerlöchert und die Sohle weist Risse auf. Ich sitze auf der Veranda des General Stores von Stehekin und versuche die Stiefel notdürftig mit Tape zu flicken. Die letzten Tage kostete es mich Überwindung, meine klammen Socken anzuziehen und in die nassen Stiefel zu steigen. Ich klebe noch eine Schicht Tape um den Sohlenrand. Für die letzte Etappe wird es reichen. Ich atme tief durch, schaue auf die Berge um mich herum und muss von einem Ohr bis zum anderen grinsen. Trotz nasser Füße fühle ich mich wie der größte Glückspilz auf Erden. Es ist Mitte September und ich befinde mich in den schroffen North Cascades in Washington, auf der letzten Etappe des Pacific Crest Trails.
Vor über fünf Monaten sind meine Schwester Malin und ich an der mexikanischen Grenze in Richtung Norden gestartet. Wir wollten den gesamten Pacific Crest Trail bis nach Kanada wandern. Dafür nahm ich sechs Monate unbezahlten Urlaub und Malin pausierte ihr Geografiestudium für ein Semester. Nachdem wir unsere Permits ergattert hatten, kündigten wir unsere Wohnung in Hamburg und buchten Flüge. Am 10. April 2017 standen wir mit voll bepackten Rucksäcken am Southern Terminus Monument des PCTs, den mexikanischen Grenzzaun im Rücken und 4280 Kilometer Trail vor uns.
Die Wüste zeigt sich überraschend Vielseitig
Die Wüste zieht mich sofort in ihren Bann. Die Tage unter der prallen Sonne, mit knappen Wasserreserven und fiesen Blasen an den Füßen, verlangen uns viel ab. Jedoch ist die Landschaft überraschend vielseitig und voller Leben. Durch starke Regenfälle im Winter blüht die Wüste außergewöhnlich intensiv. Große pinke, grüne und gelbe Blüten schmücken die Kakteen und der Wüstensand ist von unzähligen kleinen Bodendeckern übersät.
»Die mexikanische Grenze im Rücken und 4280 Kilometer Trail vor uns.«
Morgens bauen wir im Dunkeln unser Zelt ab und dann heißt es laufen, laufen, laufen. Die Wasserquellen bestimmen die Länge der Tagesetappen. Manchmal schleppe ich bis zu sechs Liter im Rucksack, bis wir wieder an einen Tank oder ein Wasserloch gelangen. Während die Temperaturen tagsüber auf bis zu 40 Grad Celsius steigen, sind die Nächte im April noch eisig. Wenn wir abends vor dem Zelt kochen, hören wir manchmal in der Ferne die Kojoten heulen und über uns leuchten Milliarden von Sternen.
Die Trailnamen des Pacific Crest Trails
Im Mai werden die Tage immer heißer und schnell vertrocknen alle Blüten. Schon um acht Uhr ist es so drückend schwül, dass der Schweiß ununterbrochen läuft. Um der größten Hitze zu entgehen, legen wir nun eine mehrstündige Siesta unter dem aufgespannten Footprint unseres Zelts ein und laufen anschließend bis spät in den Abend. Tagelang summe ich »It never rains in Southern California« vor mich hin. Man lernt schnell, wie wenig man wirklich zum Leben benötigt. Nach drei Wochen schmeißen wir Luxusartikel wie ein zweites T-Shirt oder Campinggeschirr aus unseren Rucksäcken. Weniger Gewicht bedeutet mehr Platz für Wasser und Essen, denn an dem berüchtigten Hikerhunger ist wirklich was dran.
»Während die Temperaturen tagsüber auf 40 °C steigen, sind die Nächte noch eisig kalt.«
Einmal bahnt sich Malin den Weg durch verdorrtes Buschwerk, als plötzlich eine Schlange auf sie zuschießt. Vor Schreck fällt Malin rückwärts über einen Felsblock. Die aufgebrachte Klapperschlange macht ihren Standpunkt noch mal mit ihrer lauten Klapper deutlich und zischt schließlich ab. Kurz darauf treffen wir zwei Wanderer aus Israel und Kanada. Der Kanadier erzählt, dass sein Kumpane gerade versehentlich auf eine Klapperschlange getreten sei. Der sei hochgesprungen und die Schlange habe wiederholt in seinen Stiefel gebissen. Die arme Schlange hatte an diesem Tag wirklich einiges zu erdulden. Der Israeli trug von da an den Trailnamen »Snakedancer«.
Trailnamen sind auf den Long Distance Trails der USA eine Tradition. Auch wir erhalten im Laufe der Tour unsere Namen: Ich werde zu »7Up« – ich laufe sehr gerne bergauf und habe offensichtlich eine große Vorliebe für die Zitronenbrause. Malin wird zu »GPSy« – da sie immer genau weiß, wo wir uns gerade befinden und laut der Amerikaner etwas hippiemäßig aussieht.
Begegnungen mit Engeln
Die Gemeinschaft um den Pacific Crest Trail hat eine unglaubliche Dynamik. Das fängt mit der bunten Mischung von Thruhikern an, die aus der ganzen Welt kommen, um den kompletten Trail zu wandern – und geht mit den fantastischen Menschen weiter, die wir entlang des Weges treffen. So unterschiedlich wir alle sind, uns verbindet die gleiche Begeisterung fürs Wandern und die Natur. Manchmal stehen mitten in der Wüste Kanister mit frischem Trinkwasser, die ein Trail Angel mit seinem Jeep zu einer besonders langen Trockenstrecke gebracht hat. Ein anderes Mal steht eine Kühltruhe mit eisgekühlten Dosen an einer kleinen Schotterpiste, die den Trail kreuzt.
Um solche Schlafplätze zu erleben, … dürfen die Füße ruhig mal ein bisschen leiden.
Ein besonderer Ort ist das »Casa de Luna« nördlich von Agua Dulce. Seit fast zwanzig Jahren beherbergen die Andersons dort Wanderer und bieten ihnen einen schattigen Ort zum Regenerieren, bevor es weiter in Richtung der heißen Mojavewüste geht. Als wir das Haus erreichen, begrüßt uns Terrie Anderson mit einer herzlichen Umarmung und fordert uns auf, unsere durchgeschwitzten Klamotten gegen ein fröhliches Hawaiishirt zu tauschen. Im Garten können wir unsere Kleidung waschen, uns unter der Gartendusche abspülen und dann auf Hängematten im Schatten entspannen. Abends wird der berühmte Taco-Salat serviert und alle fallen wie hungrige Tiere über die riesigen Schüsseln her.
Am nächsten Morgen fährt uns Terrie zurück zum Trail. Doch vorher verwöhnt ihr Mann Joe uns noch mit selbstgebackenen Pfannkuchen und frischem Kaffee. Die Andersons gehören zu einem Netz von Trail Angels, die uns Weitwanderer mit einer unglaublichen Liebenswürdigkeit und Hilfs-bereitschaft unterstützen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Nur ein unauffälliges Einweckglas für eine kleine Spende steht auf der Veranda vor dem Haus.
Auf Tour mit einem 11-Liter-Bärenkanister
Anfang Juni erreichen wir den winzigen Ort Kennedy Meadows. Die Wüste ist endgültig geschafft, die Zeiten mit bis zu sechs Liter Wasser im Rucksack sind überstanden. Vor uns liegt nun die Sierra Nevada mit über 4000 Meter hohen Pässen, die aber in diesem Jahr noch unter dickem Schnee begraben sind. In Kennedy Meadows stellen die meisten Thruhiker ihre Ausrüstung von heißem Wüstenklima auf hochalpines Gelände um. Auch wir haben unsere Bounce Boxes (alte Farbeimer, in denen wir Ersatzteile und Ausrüstung per Post vor uns her schicken) zum General Store gesendet und packen nun Grödel, Regenhosen und warme Funktionsunterwäsche für die nächsten Etappen in unsere Rucksäcke. Außerdem tragen wir ab hier einen Bärenkanister mit. Das sperrige Teil passt nur mit Mühe in meinen 50-Liter-Rucksack, ist aber auch eine gute Sitzgelegenheit im Camp.
Ein »High Snow Year« für den Pacific Crest Trail
Die Niederschläge im Winter 2017, die die Wüste in eine atemberaubende Farbpracht verwandelt hatten, führten auch zu einem »High Snow Year« in der Sierra Nevada. Im Juni sind die Berge noch unter Schneemassen begraben. Zugleich schwellen die Flüsse durch das viele Schmelzwasser zu reißenden Strömen an. Das Durchwaten wird teilweise zu einer gefährlichen Mutprobe. Seit Wochen ist die Schneelage das Gesprächsthema Nummer eins auf dem Trail. Laut Statistik bricht ein Großteil der Wanderer bereits nach den ersten 150 Meilen ab. In diesem Jahr ist Kennedy Meadows ein weiterer Scheidepunkt. Einige Wanderer, die es bis hierher geschafft haben, brechen aufgrund des Schnees ab. Andere beschließen, die Sierra zu überspringen, und einige versuchen ihr Glück und gehen weiter.
Auch wir laufen noch ein paar Tage weiter. Als wir jedoch vom Tod zweier Wanderer hören, die unabhängig voneinander in den reißenden Flüssen ertrunken sind, beschließen wir, nichts zu riskieren und die High-Sierra-Etappen zu überspringen. Von Bishop fahren wir nach Norden, um dem Schnee mehr Zeit zum Schmelzen zu geben und einen Abschnitt des Trails von Norden nach Süden zu laufen. Der Plan geht nicht auf: Auch in Nordkalifornien stoßen wir auf große Schneefelder. Sobald der Schnee am Vormittag taut, sinken wir bei jedem Schritt ein und unsere Füße sind permanent nass. Morgens hingegen ist der Trail spiegelglatt gefroren. Trotz Grödel rutscht Malin an einer steilen Passage weg und rauscht über zwanzig Meter den Hang herunter, bis ein umgestürzter Baum sie abrupt bremst.
Waldbrände verhindern den Weiterweg
Einige Wochen später, wir sind wieder in nördlicher Richtung unterwegs, breiten sich Waldbrände aus. Wir haben Glück und können die wunderschöne Three Sisters Wilderness in Oregon gerade noch durchqueren, bevor sie unter dicken Rauchschwaden verschwindet. Malin studiert ständig die Karten der Feuerwehr, auf denen die Ausbreitung der Brände verzeichnet sind. Trotzdem kommen wir in Washington dem Feuer einmal näher, als uns lieb ist. Der Wind dreht über Nacht und als wir aufwachen, liegt dicker Rauch über dem Feld, auf dem unser Zelt steht.
»Auf dem Trail lernt man schnell, wie wenig man wirklich zum Leben benötigt.«
Wir laufen mehrere Stunden mit feuchten Tüchern vorm Gesicht und tränenden Augen über eine Forststraße, um dem Rauch zu entkommen. Als wir eine größere Schotterpiste erreichen, kommen uns zwei Familien entgegen, die eigentlich zum Campen in die Berge wollen. Auf der Ladefläche ihres Pick-ups nehmen sie uns mit in den nächsten Ort. Dort warten wir drei Tage, bis sich die Situation verbessert. Vor uns liegt die atemberaubende Alpine Lakes Wilderness – und die wollen wir auf keinen Fall verpassen.
Während der Pacific Crest Trail in Oregon meist durch dichte Wälder und an zum Baden einladenden Seen entlangführt, ist Washington von spektakulären Bergpanoramen und Gletschern geprägt. Kurz vor der Passage über Knife’s Edge in der Goat Rocks Wilderness genießen wir das spektakulärste Frühstück des gesamten Trails: Mit Blick auf Mount Rainier sitzen wir in aller Frühe am höchsten PCT-Punkt Washingtons und der Ausblick ist so wunderschön, dass ich vor Rührung kaum mein Müsli runterschlucken kann. Felsen, auf denen sich die Murmeltiere sonnen, schneebedeckte Gipfel und ein blauer Himmel über der weiten Berglandschaft. Dazwischen der schmale Trail, der sich über die Bergrücken in die Ferne schlängelt.
Letzte Meter nach Kanada
Nach fünf Monaten versagen beide Reißverschlüsse an den Ein-gängen unseres Zelts. Von jetzt an bekommen wir regelmäßig Besuch von Kleintieren. Wegen der Bären hängen wir jede Nacht unser Essen mindestens fünf Meter hoch in die Bäume, denn in Oregon und Washin-gton haben wir den Kanister nicht mehr dabei. Einmal jedoch vergesse ich meine Klopapierrolle im Zelt. Als ich aufwache, sind unsere Schlafsäcke von einer weißen Schicht bedeckt. Malin guckt mich genervt an und vermutet, dass diese fiesen kleinen Springmäuse das Klopapier zu Konfetti verarbeitet hätten. Und dabei sind wir gerade erst von der letzten Versorgungsstation aufgebrochen. Die Konsequenz: ein flauschiges Winterquartier für die Mäusefamilie und fünf Tage kein Klopapier für mich.
Zurück zu meiner anfangs erwähnten Schuhreparatur in Stehekin. Uns trennen nur noch wenige Tage von der kanadischen Grenze. Bevor wir aufbrechen, holen wir unser letztes Versorgungspaket im Post Office ab. Es wartet noch ein zweites Paket auf mich: meine verloren geglaubte Softshellhose und trockene Socken! Die letzte Woche musste ich in Shorts und langer Unterhose laufen, da meine Bounce Box mit den warmen Klamotten nicht angekommen war. Von Stehekin geht es in einem anderthalb Tage langen Aufstieg in die Berge.
Und wieder acht Stunden still sitzen im Büro?
Die mittlerweile dunkelroten, orangebraunen und tiefgelben Sträucher und Moose bilden einen farbenprächtigen Kontrast zu den dunklen, schroff gezackten Bergmassiven der North Cascades und ihren schneebedeckten Gipfeln. Mein Highlight auf dieser Etappe ist ein Pass mit dem optimistischen Namen »Cutthroat Pass«, von dessen Rücken wir eine grandiose Aussicht auf die zerklüfteten Cascades haben. Beim Gedanken, dass unsere Wanderung bald zu Ende sein wird, kriege ich einen Klumpen im Hals. Wie soll ich bloß wieder in geschlossenen Räumen schlafen? Mich in den Stadtalltag einfinden? Von acht Stunden still sitzen im Büro ganz zu schweigen.
Im General Store: Ob das Proviantpaket angekommen ist? Am Ende: jetzt einfach wieder ins Büro?
Dann taucht es unvermittelt zwischen den Bäumen auf: das Northern Terminus Monument des Pacific Crest Trails. Fünf einfache Säulen vor einer breiten Schneise im Wald. Dahinter ein Holzschild »Welcome to Canada«. Wir verewigen uns in dem vom Regen durchweichten Trailregister. Jemand hat Aufkleber mit der passenden Aufschrift »PCT 2017 – The Year of Ice & Fire« hinterlassen. Wir sind überglücklich, es bis hierher geschafft zu haben und voller Dankbarkeit für die intensive Zeit auf dem Trail. Fünfeinhalb Monate in der Wildnis, fast genauso viele Nächte in unserer winzigen Zelt-WG, mehrere Tausend Kilometer unter den löchrigen Sohlen – was für ein unvergessliches Abenteuer! Einerseits freue ich mich auf eine heiße Dusche und ein richtig fettes Essen, andererseits würde ich am liebsten auf der Stelle umdrehen und einfach wieder zurücklaufen.
Rückkehr in die High Sierra
Im Sommer 2018 kehre ich mit meinem Mann Henning in die Sierra Nevada zurück, um die Etappen in der High Sierra nachzuholen. Mir kommen die Tränen, als ich die mittlerweile so vertrauten dreieckigen Pacifi Crest Trail-Symbole an den Bäumen entdecke. Jedoch lassen mich meine Beine schnell spüren, wie leicht man die Strapazen verdrängt und vergisst, was einem der Trail körperlich abverlangt. Diesmal geht es ohne Einlaufen über die Pässe der High Sierra. An der Crabtree-Meadows-Gabelung verlassen wir schließlich den Pacifi Crest Trail und beenden die Tour mit der Besteigung des Mount Whitney – mit 4421 Metern der höchste Berg der Lower 48. Auch wenn er nicht offiziell zum PCT zählt, besteigen viele Thruhiker den Whitney während ihrer Wanderung.
Um zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu sein, starten wir mitten in der Nacht mit dem Aufstieg. Im Schein der Stirnlampen schlängeln wir uns die unendlichen Serpentinen zur Whitney Junction hoch. Von hier aus geht es durch zerklüftete Felsen die letzten Höhenmeter zur Spitze hinauf. Zu meiner Linken erahne ich einen steilen Abhang, abgesehen von dem engen Pfad, der sich an die Felswand klammert, ist alles pechschwarz. Je höher wir kommen, desto eisiger wird es. Als wir in Daunenjacken den Gipfel erreichen, ist es noch immer stockfinster und alles gefroren. Ich kuschele mich in meinen Schlafsack, ruhe meine müden Beine aus und warte auf ein Feuerwerk von Sonnenaufgang auf dem höchsten Punkt der Sierra Nevada.
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