Mario Goldstein hat Deutschland auf dem grünen Band durchquert. Die Etappe auf den Brocken war nicht nur zahlenmäßig ein Höhepunkt seiner Wanderung.
Sunny wirkt erschöpft. Mit ihren zehn Jahren macht ihr die Hitze zu schaffen. Seit wir die 1000-Meter-Marke geknackt haben, gibt es kaum noch schattenspendende Bäume und die Sonne drückt erbarmungslos gegen den Berg.
Wir sind auf dem Harzer Grenzweg unterwegs und wollen auf den Brocken (1141 m). Noch während ich denke, dass heute nur wenige Wanderer unterwegs sind, schnauft die Brockenbahn heran und bringt die ersten Besucher bis kurz unter den Gipfel. Kaum hat sich die alte Dampflok an uns vorbeigeschoben, schließt von hinten ein alter Mann zu mir auf.
Benno Schmidt, den die meisten nur als »Brocken- Benno« kennen, steigt fast jeden Tag auf den Brocken. Er gibt zu, dass er schon »ein bisschen verrückt sei«, und flachst unter der dunklen Sonnenbrille hervor: »Viele fragen, ob ich eine böse Frau zu Hause habe oder ’ne feuchte Wohnung.« Benno hat schon alles gehört, er zitiert dann gerne einen ostdeutschen Satiriker: »Es müsste viel mehr Menschen mit einer Macke geben. Alles was verrückt und fern der Norm ist, ist ein Stück Kultur und bereichert unser Leben.«
Der Brocken ist der windreichste Berg Deutschlands und Orkane mit Windgeschwindigkeiten von 200 Stundenkilometern sind hier keine Seltenheit. Der Windrekord wurde 1984 mit 263 Stundenkilometern gemessen. Zudem hält der Brocken mit 330 Nebeltagen den unangefochtenen Rekord in Deutschland. Über 30 Tote hat es hier schon gegeben. Oft verirren sich die Menschen und erfrieren.
8515-faches Gipfelglück
Wenn es mal wieder in Strömen regnet, fragt Bennos Frau schon, ob er sich das heute wirklich antun will. Doch am Ende gibt sich der 86-Jährige einen Ruck und geht los. Vor allem die Begegnungen mit den netten Menschen begeistern ihn. Selbst Reinhold Messner hat er hier oben schon getroffen. Siebzig Menschen haben es über 100-mal auf den Brocken geschafft, 20 Wanderer haben gar mehr als 1000 Aufstiege im Tourenbuch. Bennos Frau gehört dazu und hat bisher 1207 Stempel gesammelt. Sie bringt viel Verständnis für ihren Mann auf, der immerhin täglich fünf Stunden unterwegs ist.
Alles für deine Tour auf dem Grünen Band
Während die Brockenbahn hinter uns wieder in Richtung Tal rollt, erreichen wir gemeinsam den Gipfel. Benno steht heute zum 8515. Mal hier oben. Wer diesen Rekord brechen will, müsste fast 24 Jahre lang jeden Tag mindestens einmal auf den Brocken wandern. Doch die Chancen stehen schlecht, denn wenn Benno es gesundheitlich durchhält, wird er auch weiterhin täglich seine Kilometer in Richtung Gipfel abspulen.
Für mich geht es wieder bergab. Ein schmaler Pfad führt entlang der Ecker, die hier munter im Zickzackkurs in Richtung Tal plätschert. Der Brocken markiert den geografisch höchsten Punkt meiner Wanderung entlang des Grünen Bandes. Wenn alles gut läuft, dann werde ich am Ende am Punkt null stehen und Sand unter meinen Füßen haben. Denn dort, wo die Ostsee ihre Wellen ans Ufer bei Priwall schickt, endet das Grüne Band Deutschland. Doch noch bin ich im Nationalpark Harz unterwegs und bis zum Ziel sind es noch um die 600 Kilometer. Ich weiß übrigens nie genau, wie viel Strecke ich gemacht habe, denn jeden Meter über GPS zu tracken, liegt mir nicht. Der Weg ist ja bekanntlich das Ziel – und so halte ich es auch.
