Rüdiger Nehberg – der Rastlose

Kann ein Einzelner die Welt verbessern? Darauf hatte Rüdiger Nehberg eine klare Antwort: Natürlich, wer denn sonst! Das große Interview aus dem 4-Seasons Magazin (Vorgänger Globetrotter Magazin) aus dem Jahr 2004.

Rüdiger Nehberg – Survival-Experte und Menschenrechtsaktivist lebt es vor: Unermüdlich und mit erstaunlichem Erfolg kämpft er gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen in Afrika. Seine 69 Jahre sind ihm dabei eher Ansporn als Hindernis: »Ich habe ja nicht ewig Zeit!« 4-Seasons sprach mit Rüdiger Nehberg über Survival-TV, den Humor der Yanomami und Rezepte für die Weltverbesserung.

Archiv Rüdiger Nehberg

Rüdiger, kürzlich war Survival groß im Fernsehen. Hast du auch mitgefiebert bei »Ich bin ein Star – holt mich raus«?

Einmal habe ich das angeschaut: eine hochgradige Publikumsverarschung! Schauplatz war nicht die Natur, sondern ein überdachtes Wald-Studio mit Tieren aus der Zoohandlung. Und diesen Folienteich hätte jeder Kleingärtner hübscher hinbekommen.

Nehberg ist viel unterwegs und schwer zu erwischen. 4-Seasons gelang dies schließlich bei der Eröffnung am Wiesendamm. Das Interview fand am ruhigsten Platz der Filiale statt: im Keller für die Ski-Montage.

Wie würdest du so eine Sendung machen?

Die Kandidaten zu zweit mit Messer und Kompass in den richtigen Dschungel schicken. Die sollen sich 100 Kilometer durchschlagen und mit einer Kamera dokumentieren, was sie erleben.

Statt in Rente zu gehen, hast du dich mit 69 Jahren ebenfalls durch den Urwald geschlagen – 1000 Kilometer, ganz ohne Ausrüstung. Wenn einer sowas packt, meint man, dann Rüdiger Nehberg. Und trotzdem ging es erstmal schief?

Das machte die Sache spannend. Der Hubschrauber schleifte mich beim Absetzen durchs Gestrüpp, was zu Schnitt- und Kratzwunden führte. Das Messer, zu dem meine Frau mich genötigt hatte, und die Solarzelle des Satellitentelefons gingen verloren. Das war jedoch nicht tragisch, sondern passte zur Idee, nackt und »ohne alles« unterwegs zu sein – gut, anstandshalber trug ich eine Badehose. Ohne Solarzelle war kein Kontakt mit Zuhause möglich, und ich galt bald als verschollen. Dabei ging’s mir im Dschungel gut. Wirkliche Probleme bereitete erst später die Verfolgung durch die Behörden. Man warf mir »Bio Piraterie« vor.

Was bitte ist ein Bio-Pirat?

Er stiehlt Samen und Tiere oder forscht illegal nach Medikamenten. In Brasilien ist das ein Staatsverbrechen. Mir warf man das vor, weil ich mich bei den Waiapi-Indianern, wo ich für den Trip trainierte, natürlich auch für die Heilkräfte von Pflanzen interessiert hatte. Ein Staatsanwalt hörte davon und wurde misstrauisch. Dann stellte er fest, dass ich durch meine Yanomami-Aktionen Brasilien schon öfter in »Misskredit« gebracht hatte und ließ nach mir fahnden. Ich wollte schon über die Grenze in ein Nachbarland fliehen, als ein Anwalt, den der österreichische Konsul besorgt hatte, die Sache niederschlagen konnte. Am Schluss musste ich nur noch 200 Euro wegen Reisens ohne Pass zahlen – den hatte ich im Dschungel natürlich auch nicht dabei.

Was kann man von Indianern über den Dschungel lernen?

Unendlich viel. Sie haben Respekt vor der Natur, sie haben nicht unsere Sucht nach Reichtum, Luxus und ständigem Fortschritt. Sie kennen keine Arbeitslosigkeit, keinen Müll, haben im Durchschnitt nur zwei Kinder, also keine Überbevölkerung und keine Rentenprobleme. Das Wissen und Können der Yanomami wird ein Weißer im Wald nie erreichen. Ich war daher kein sehr begehrter Jagdgefährte. In Zeichensprache bedeutete mir der Häuptling: Du kannst nicht schleichen, kannst keine Tierstimmen nachmachen, kannst dies nicht, kannst das nicht. Um doch mit auf Pirsch zu dürfen, bot ich meine ganze Überzeugungskraft auf. Dann schlich ich hinter den Jägern her, mäuschenstill, stundenlang, kreuz und quer durch den Dschungel. Dann endlich ein Zeichen: zwei Affen auf einem Baum! Der Häuptling machte sich schussklar. Ein Wahnsinnsbild, dachte ich, zückte die Kamera, bekam aber nicht alles in die Optik. Also trat ich zurück – auf einen Ast. Knack! Die Affen rasten davon. Der Häuptling schoss daneben. Stinksauer schickte er mich zurück.

Du musstest zurück ins Dorf?

Ja. Aber ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie ich zurückkommen sollte. Als ich mein Problem signalisiert hatte, starrte mich die ganze Truppe fassungslos an. Die Blicke waren eindeutig: Der ist ja noch blöder, als wir gedacht haben! Schließlich kommandierte der Häuptling seinen Sohn ab, um mich zu führen. Der Sohn war vier Jahre alt, unglaublich! Der marschierte vorneweg, schaute weder nach rechts noch nach links – und nach sechs Stunden waren wir plötzlich da. Als der Kleine den Frauen erzählte, was passiert war, kriegten die sich gar nicht mehr ein. Ab da war ich der Dorfdepp. Immer wieder wurde die neue Rüdiger-Geschichte als Theaterstück aufgeführt: vorneweg die genialen Indianer, leiser als Nebelschwaden; hinten der deutsche Glatzkopf, tolpatschig wie ein besoffenes Tapir. Und der Häuptling zählte wieder an den Fingern ab, was ich alles nicht konnte: nicht schleichen, nicht heim finden und so weiter. Weil die Liste so lang war, sprangen ab dem elften Punkt immer Assistenten herbei und stellten weitere Finger zur Verfügung. Ich war 31 Einheiten blöde. Die Indianer haben sich köstlich amüsiert. Aber gelernt habe ich dort auch sehr viel.

Konntest du nichts gegen das Dorfdeppen-Image tun?

Aus Jux wollte ich mich schon revanchieren. Also lud ich die Jäger zu einer Show mit meinem Revolver ein. Ich stellte fünf große Holzstümpfe auf. Bei sechs Kugeln in der Trommel hatte ich somit einen Reserveschuss, denn Indianer können nicht zählen. Dann warf ich mich in Pose, zog die Waffe und ballerte in Sekunden alle Ziele weg. Bei der Polizei habe ich mal eine Combat-Ausbildung mitgemacht, daher kann ich das ganz gut. Die Indianer waren mächtig beeindruckt. Es gab eine Riesendiskussion, die Jäger palaverten endlos – wie zehn Grüne, die auf einen Nenner kommen wollen und das kaum schaffen. Schließlich kam der Häuptling zu mir: Sag mir, Weißer, wo gibt es diese Waffe, die alles von alleine trifft? Ich erklärte, dass ja nicht die Waffe so toll sei, sondern der Schütze. Darauf schüttelte der Häuptling energisch den Kopf: Das glaube ich nicht. Du bist doch zu allem zu blöde. Es muss also an der Waffe liegen!

Du hast zunächst einen eher normalen Beruf ergriffen. Warum wird ein geborener Abenteurer ausgerechnet Konditor?

Weil es in den Notzeiten nach dem Krieg als krisensicher erschien. Zwar hat mich der Beruf nie wirklich befriedigt, doch er ernährte mich. Am Schluss hatte ich 50 Mitarbeiter. Aber wären nicht die Reisen als Ausgleich gewesen, ich wäre völlig verblödet. Übrigens wollte ich auch mal Schlangenbeschwörer werden, das hatte ich in Marokko gelernt. Die geplanten Auftritte im Hansa-Theater mit sechs giftigen Kobras wollte aber keine Versicherung abdecken. Seither habe ich nur für mich herumbeschworen.

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Dieses Interview wird im Kundenmagazin von Globetrotter erscheinen. Vor 25 Jahren hat dir Klaus Denart bei der Gründung die Teilhaberschaft angeboten. Wieso hast du nicht zugegriffen?

Klaus war und ist mein bester Freund. Aber ich war so verwickelt in die Konditorei, hatte noch Schulden und wagte nicht, mich zu verzetteln. Die Konditorei lief gut. Outdoor-Läden gab es damals schon ein paar, die liefen nicht so gut. Nie hätte ich gedacht, dass Klaus eines Tages Europas größter Outdoor-Anbieter sein würde.

Eventuell wäre ein Survival-Guru, der nur in der Badehose auf Tour geht, ja auch kein guter Ausrüstungsverkäufer …

Auf jeden Fall bin ich bis heute Klaus’ schlechtester Kunde. Ich brauche meist nur eine kleine Tasche und einen Gürtel. Eben habe ich zwar bei Globetrotter 20 Alu-Kisten, zwei Betten und ein Zelt für meine Krankenstation in Äthiopien bestellt, aber das wird von Klaus gesponsert, da verdient er also auch nichts dran. Ich treibe den Jungen noch in den Ruin.

Gibt es denn Outdoor-Ausrüstung, die sogar dich beeindruckt?

Als ich Isomatten für die Ärztinnen der Krankenstation brauchte und diese selbstaufblasenden Dinger vorgeführt bekam, war ich schon überrascht – da hätte ich auch selber drauf kommen können! Oder dass GPS heute so preiswert ist. Als ich mit dem Tretboot über den Atlantik schipperte, da musste ich seekrank mit dem Sextanten navigieren. Heute drückt man nur cool auf den Kopf und sieht: Aha, nur noch 3712,042 Kilometer!

Wie vertrugen sich Konditorei und Survival? Du wurdest durch die Deutschland-Durchquerung bekannt und hast das TV-Publikum mit dem genüsslichen Verzehr von allerlei Getier geschockt.

Die Würmerfresser-Epoche hat mich zwar bekannt gemacht, war aber auch ein Negativimage. Viele Kunden blieben weg. Also habe ich meine Backstube gläsern gemacht, damit man reingucken konnte und sah: Die Hygiene der Lebensmittelproduktion ist eine andere als die Hygiene unterwegs. Und ich machte Werbung: Ein Konditor, der jeden ertappten Mehlwurm selber vernascht, der muss eine saubere Backstube haben! Letztlich hatte ich mehr Zustrom als vorher. Später habe ich die Konditorei ohnehin verkauft und mich ganz meinen Projekten gewidmet.

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Bei diesen Projekten, sei es der Schutz der Yanomami oder aktuell der Kampf gegen die Genitalverstümmelung, kann man ein Muster erkennen: Du engagierst dich für Leute, mit denen du eigentlich nichts zu tun hast; bedienst dich sehr unkonventioneller Mittel – und hast damit oft unglaublichen Erfolg. Erklär’ doch mal, wie du genau vorgehst …

Selten gibt es gleich zu Beginn einen konkreten Plan. Von der Genitalverstümmelung zum Beispiel hatte ich schon 1977 gehört, als Klaus und ich in der Danakil-Wüste unterwegs waren. Damals hat mich das nicht sonderlich interessiert, weil ich dachte, das wäre eben so ein Brauch wie Tellerlippen oder Beschneidungen der Vorhaut – tief in den Traditionen verwurzelt, unabänderlich. Erst sehr viel später, im Jahr 2000, kam das Thema plötzlich wieder in mein Leben. Die Yanomami hatten endlich Frieden, und meine Ex-Partnerin und viele andere Organisationen kümmerten sich weiter um sie. Ich fühlte mich etwas arbeitslos. Da las ich das Buch »Wüstenblume«. Darin schildert die Somalierin Waris Dirie, was die Beschneidung von Klitoris und Schamlippen wirklich ist: ein bestialisches Ritual. Ich hab’ wirklich geheult an manchen Stellen.

Das Buch »Wüstenblume« ist ein Bestseller, der viele erreicht. Aber nicht jeder gründet gleich einen Verein zur Bekämpfung des Beschneidungs-Rituals. Warum du?

Es gab eine Art Initialzündung: Wie, fragte ich mich, kann so etwas im Namen des Koran geschehen? Kann eine Weltreligion erlauben, dass in ihrem Namen Kinder verkrüppelt werden? Ich kenne den Islam gut und erkannte sofort, dass diese Fragestellung ein guter Ansatz für eine Veränderung sein könnte. Zwar verstümmeln auch die Christen, aber der Islam ist in den betroffenen Gebieten die absolut größte Religion. Deshalb sah ich im gemeinsamen Kampf, zusammen mit ihm, die größten Chancen. Außer in der Bäckerinnung war ich aber nie in einem Verein, daher wäre ich auch nicht auf die Idee gekommen, eine Organisation zu gründen. Das tat ich erst, als meine Strategie nirgends auf Gegenliebe stieß. Alle fanden meine Idee völlig beschissen.

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Andere Menschenrechts-Organisationen wollten von deinem Konzept nichts wissen? Warum das denn?

Die einen sagten: Thema Islam, kannste in Deutschland vergessen, wegen Bin Laden und so … Dabei hat der Islam so viel positive Kraft. Klaus und ich wären gar nicht mehr am Leben, wenn es nicht die hohe Ethik der Gastfreundschaft gäbe. Die Afar in der Danakil-Wüste haben sich zweimal mit ihren Körpern vor uns gestellt, als wir erschossen werden sollten. Das würde ich für meine Gäste wahrscheinlich nie machen. Seitdem fühle ich mich dem Islam verpflichtet. Andere Skeptiker wiederum meinten, das Thema Genitalverstümmelung sei nichts für Männer, sondern »Frauensache«. Da merkte ich: Die etablierten Organisationen hatten Angst, waren reine Bürokraten und hatten keine praktische Erfahrung am Ort der Verbrechen. Also gründete ich mit Klaus, meiner Partnerin Annette und noch einigen Vertrauensleuten den eigenen Verein: TARGET.

Okay, der Verein steht. Aber wie fängt man nun wirklich an?

Beim Yanomami-Projekt habe ich gelernt, dass man Bilder braucht, die beweisen, was man erzählt. Annette und ich waren also einige Monate in Ostafrika bei muslimischen und christlichen Völkern. Dann hatten wir alles auf Film: von der einfachen Verstümmelung, wo »nur« die Klitoris abgeschnitten wird, bis hin zur brutalen »pharaonischen« Beschneidung. Dabei werden den kleinen Mädchen die Klitoris und die Schamlippen entfernt – ohne Narkose. Die Wunde wird mit Dornen zugesteckt, die Schenkel zusammengebunden, damit die Scheide bis auf eine reiskorngroße Öffnung völlig zusammenwächst. Wochenlang liegen die Mädchen dabei im eigenen Urin, blutend, eiternd, verfaulend. Die Uno schätzt, dass ein Drittel der Kinder stirbt. Wer das gesehen hat, dem erzählt keiner mehr, man solle sich da als »Ungläubiger« nicht einmischen. Das geht jeden an, Menschenrechte enden nicht an Landes- oder Kulturgrenzen. Im Übrigen bin ich keineswegs ein »Ungläubiger«: Ich habe höchsten Respekt vor der Genialität der Schöpfung. Sie hat mich gezeugt, sie lässt mich nun schrumpfen, und sie wird mich bald sterben lassen und kompostieren.

Mit dem Filmmaterial gingt ihr an die Öffentlichkeit?

Erstmal mussten wir feststellen, dass das Material nicht sendefähig war. Viel zu brutal. Im Fernsehen kann man nur die »harmloseren« Bilder zeigen, und auch die nur für Sekunden. Bei meinen Vorträgen habe ich die ursprünglich verwendeten Dias bald rausgenommen, es gab nur noch Ohnmachten. Jetzt zeige ich Fotos, die gerade noch im Rahmen des Zumutbaren, aber dennoch schlimm sind. Aus dem Filmmaterial haben wir eine Dokumentation für die Gremien der Uno, der Afrikanischen Union und die Glaubensführer gemacht. Dort hat der Film auch bereits einiges bewirkt. Der nächste Schritt war, mich bei führenden Muslimen rückzuversichern. Das Hauptziel ist ja, dass die Genitalverstümmelung vom Islam selbst zur Sünde erklärt wird. Man kann doch nicht fünfmal täglich bekennen, wie genial, unfehlbar und einmalig Allah ist – und ihm gleichzeitig unterstellen, bei der Schaffung der Frau einen Flop gelandet zu haben – der einen berechtigt, zerstörerisch an Frauen herumzuschneiden.

Wie finden es die Religionsführer, dass ihnen ein Westler sagt, sie sollen den Koran anders interpretieren?

Ich erwartete natürlich einigen Ärger, aber erlebte eine gigantische Überraschung: nur Kooperation! Das ging los beim Zentralrat der Muslime. Der Vorsitzende, Dr. Nadeem Elyas, sagte: Tolle Idee, für 80 Prozent der Muslime ist die Beschneidung sowieso unvorstellbar. Meine Unterstützung haben Sie. Natürlich komme ich nicht als der große Besserwissser. Ich wende mich an sie mit der Bitte um Hilfe. In Demut und Respekt. Mein Traum ist es, zusammen mit den Saudis ein Banner über die Kaaba in Mekka zu spannen, worauf steht, dass Genitalverstümmelung eine Gottesanmaßung und Diskriminierung des Islam ist. In Mekka erreicht man alle Muslime – vom hintersten Beduinen bis zur Frau Staatspräsident. Für den korrekten Text eines solchen Banners habe ich bereits drei gut formulierte Rechtsgutachten, erstellt von Großscheich Tantawi von der Al-Azar-Universität in Kairo, vom ägyptischen Religionsminister Zaqzouq und vom Großmufti Hamden O/ Tah von Mauretanien. Aus Mauretanien komme ich gerade zurück. Unglaublich, wie viel Wohlwollen man uns dort entgegenbringt. Da fragt keiner: Bist du Moslem oder nicht? Denn jedem ist klar, das ist im Sinne des Islam, das zeigt die positiven Kräfte der Religion. Diesbezüglich denke und handle ich islamisch.

Das klingt vielversprechend. Aber kann TARGET auch schon konkrete Erfolge vorweisen?

Bei den Afar, einem äthiopischen Volk mit drei Millionen Menschen, haben wir 2002 eine erste Konferenz arrangiert, wo das Thema auf den Tisch kam. Alle Clanführer waren da, und erstmals wendeten sich auch die Betroffenen, nämlich die Frauen, gegen die Beschneidungspraxis. Am Ende der Konferenz stimmte der Oberste Rat für Islamische Angelegenheiten einstimmig für die Abschaffung der Beschneidung. Das neue Gesetz wurde in die Stammes-Scharia aufgenommen und ist daher absolut verbindlich für die Afar.

Ist es möglich, die Einhaltung zu kontrollieren?

Unsere Vertrauensfrauen vor Ort würden es uns sofort sagen, wenn sich jemand nicht daran hielte. Die Frauen stehen völlig hinter dem Projekt. Inzwischen wurde auch erkannt, dass viele medizinische Probleme mit der Beschneidung zusammenhängen. Die vernähte Scheide hat nur diese reiskorngroße Öffnung, und das führt schon bei jeder Menstruation zu Qualen, außerdem werden Entzündungen und andere Krankheiten natürlich begünstigt. Normalerweise wird die vernähte Scheide erst vom Ehemann in der Hochzeitsnacht geöffnet – mit dem Penis oder einem Dolch. Wir wurden nun gebeten, den bereits beschnittenen Mädchen zu helfen. TARGET wird deshalb im Juli eine mobile Krankenstation und zwei Ärztinnen nach Äthiopien schicken. Dabei sind auch ein einheimischer Führer und eine Lehrerin, die den Leuten nebenher das Alphabet beibringen soll.

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Du sagst: eine erste Konferenz. Wird es weitere geben?

Ja. Wir organisieren demnächst eine zweite Konferenz am Horn von Afrika, in Djibouti. Auch dort haben wir, nach Vorgesprächen, Chancen, dass man die Verstümmelung zur Sünde erklärt. Viel Arbeit. Wie viele Aktivisten hat TARGET denn? Aktivisten sind nur Annette Weber und ich. Mitglieder nehmen wir keine auf. Wir bleiben die sieben Gründer. Aber man kann Förderer werden – und weil ich so viele jugendliche Anhänger habe, auch schon ab 15 Euro im Jahr. Das wird akzeptiert, nach drei Jahren haben wir fast 6000 Förderer. Die Strategie macht uns diskussionsarm, reaktionsschnell, effektiv. Damit unterscheiden wir uns von Vereinen, deren Hauptaktivität sich aufs Theoretisieren und Sesselpupsen im sicheren Europa beschränkt. Bisher hat Annette die Büroarbeit allein bewältigt. Jetzt mussten wir eine Halbtagskraft engagieren, um frei zu bleiben für die Aktionen in Afrika.

Deine Tochter hat einmal über dich gesagt: »Ihn treibt der Drang zu leben, diesem Leben eins auszuwischen, ihm mehr abzuknöpfen, als eigentlich für ihn vorgesehen war.« Stimmt das? Kommt da deine offenbar unerschöpfliche Energie her?

Ja, das ist schon so. Man kann so dahinleben, wie einem die Gesellschaft das erlaubt – oder mehr daraus machen. Besonders durch die Yanomami-Befreiung oder jetzt durch TARGET kann ich meinem Leben eine ganz andere Dimension geben und erlebe eine Erfüllung bis in die tiefste Pore. Ich könnte mir nichts anderes vorstellen. Was wäre denn die Alternative? Ich krieg Rente, ich hock da auf so ‘nem Kissen, guck den Straßenverkehr an oder ob meine Forellen beißen – ich würde wahnsinnig!

Nehbergs Ruhestand ist also nicht abzusehen?

Stillsitzen kann ich nicht. Kaum ist das eine Thema durch, sind da schon zehn andere. Probleme gibt’s genug, man muss nur mit wachen Augen reisen oder auch in Deutschland rumgucken. Das kann ich übrigens jedem empfehlen: Es lohnt sich, anders zu leben und sich zu engagieren! Vieles im Alltag wird dann belanglos. Ich könnte nie auf eine Small Talk-Party, wo es nur um Klamotten oder Tratsch geht. Ich habe ja nicht mal einen richtigen Anzug. Als ich das Bundesverdienstkreuz bekam, sagte Ministerpräsidentin Heide Simonis, sie dürfte mir das eigentlich gar nicht anheften, weil es da eine Kleiderordnung für die Verleihung gibt, Smoking, Frack oder so.

Aber du hast das Verdienstkreuz trotzdem bekommen?

Ja. Für das Engagement für die Yanomami und die Kooperation mit dem Islam gegen die Verstümmelung. Und ich habe mich darüber gefreut. Für die Menschenrechtsarbeit ist es natürlich auch nützlich. In Mauretanien sind Annette und ich zu Ehrenbürgern ernannt wurden und durften unser Banner vor dem siebtgrößten Heiligtum des Islam spannen. Das war für mich die Generalprobe für das Projekt in Mekka! Diese Idee hatte ich selbst für unerreichbar gehalten, aber sie rückt näher. Wenn Mekka klappt, wird die Abschaffung der Frauenverstümmelung die größte Image-Kampagne für den Islam seit dem Propheten!

Rüdiger Nehberg verstarb am 1. April 2020 in Rausdorf (Holstein). Seine Grabrede, das hatte er einst verfügt, sollte sein bester Freund halten: Klaus Denart, der Gründer von Globetrotter. Ihr lest sie hier: »Eine Rede für Rü«.

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