Dicke Tropfen lösen sich von den Ästen, klatschen auf Gore-Jacken und Rucksack-Regenhüllen. Mit jedem Schritt streifen wir Nässe von den Büschen und Farnen entlang des schmalen Pfads.
Das abziehende Gewitter lässt den Wald dampfen. Dann spickt die Sonne durch ein Wolkenloch, und die Natur beginnt zu leuchten – in hundert Grüntönen, unwirklich intensiv. Es ist einer dieser magischen Momente beim Trekken, die nur erlebt, wer über eine Tageswanderung hinaus plant, sein Zeug selbst schleppt und bei Schietwetter nicht gleich umdreht.
Gerade überlege ich, woran mich die mystische Szenerie erinnert, da gibt Phil, der ein paar Meter vor mir über den Seensteig wandert, schon die Antwort: »Krass, hier sieht’s echt aus wie in Neuseeland.«
Zelten im Nationalpark? Geht
Neuseeland ist weit weg und in Zeiten von Corona vollends unerreichbar. Also haben wir den lange aufgeschobenen Plan aus der Schublade geholt, mal »eine wirklich außergewöhnliche Wochenendtour in Deutschland« zu machen. Als verlässliche Messlatte für Außergewöhnlichkeit dient die spontane Reaktion von Freunden, denen man seinen Plan darlegt. Liegen die Antworten zwischen »Wer denkt sich denn sowas aus?« und »Da will ich mit, aber unbedingt!«, ist man auf dem richtigen Weg.
»Diese magischen Momente erlebt nur, wer über eine Tageswanderung hinaus plant, sein Zeug selbst schleppt und bei Schietwetter nicht gleich umdreht.«
In die Entstehung des Plans fließen – neben ein paar Gläsern Wein – angelesenes Halbwissen, aufgeschnappte Infos und handfeste Recherchen ein:
»Dieser neue Nationalpark im Schwarzwald, da waren wir noch nie.«
»Tja, in Nationalparks darf man nicht zelten.«
»Offenbar doch. Es gibt da wohl so ein paar kleine Trekkingcamps, die man offiziell reservieren kann.«
»Klingt gut. Wo ist das genau?«
»In der Gegend um Baiersbronn.«
»Baiersbronn? Dieses Dorf mit den vielen Sternerestaurants? Da war meine Schwester mal edel speisen, davon erzählt sie heute noch. Könnten wir doch auch …«
»Aber wir wollen doch zelten und wenig schleppen. Das heißt nun mal Tütenessen. Wir können uns ja Gourmet-Tütenessen besorgen, haha.«
»Lass mich nachdenken …«
Drei Sterne Michelin – seit 27 Jahren
Der Plan nimmt Gestalt an, hängt aber noch von zwei Reservierungsanfragen ab: Camp Gutellbach und Schwarzwaldstube. Camp Gutellbach ist ein winziges Trekkingcamp mitten im Wald, ohne Handyempfang, dafür mit Feuerstelle und Plumpsklo ausgestattet. Die Schwarzwaldstube ist seit über 40 Jahren DAS Vorzeige-Restaurant der Republik und allein 27 Jahre durchgehend mit drei Sternen vom Guide Michelin ausgezeichnet. Phil und ich sind uns einig: Wenn schon, denn schon.
Trek’n Eat gegen Sternemenü
Camp Gutellbach und Schwarzwaldstube trennen Welten, vielleicht sogar Weltanschauungen, aber auch weniger als zehn Kilometer. Rund um Baiersbronn und im nahen Nationalpark Schwarzwald wartet ein überraschend vielfältiges Netz an Wanderwegen. 550 Kilometer (!) sind unter dem Slogan »Baiersbronner Wanderhimmel« erfasst, markiert und auch online erstklassig aufbereitet. Selten hat man sich so komfortabel durch die Möglichkeiten geklickt. Von familientauglichen Rundtouren bis zu anspruchsvollen Langstrecken-Trails ist alles dabei.
Die Infos zum Baiersbronner Seensteig machen uns neugierig: 90 Kilometer geht es rund um Baiersbronn durch den erst 2014 gegründeten Nationalpark Schwarzwald und zehn weitere Schutzgebiete. Ausgelegt ist der Seensteig als 5-Tage-Tour, und alle Etappenpunkte sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Fünf Tage Zeit haben wir gar nicht im Gepäck, aber wir können ja ein, zwei Filetstückchen des Steigs rauspicken. Schwarzwaldstube und Camp Gutellbach liegen praktisch am Weg.
Die Reservierungen gehen klar, der Plan steht: Am ersten Abend bleiben wir auf sicherem Terrain, wo wir uns auskennen und nichts passieren kann. Also in der Wildnis. Am zweiten Abend werden wir uns exponieren, mutig sein und dem Unbekannten ins Auge schauen. Schwarzwaldstube! Etwas verunsichert sind wir schon, all diese Gabeln, Weine und französischen Fachbegriffe. Um unseren Ausflug in die Welt der Gourmets vorzubereiten, werden wir bereits im Camp das beste Tütenessen verkosten, das wir kennen. Ein Wettstreit der Genüsse!
Okay, das gefriergetrocknete Expeditionsfutter, zubereitet mit heißem Wasser in fünf Minuten, gegen ein abendfüllendes Weltklasse-Menü antreten zu lassen, an dem zehn Köche viele Stunden gearbeitet haben – das könnte ein wenig unfair erscheinen.
Der Schwarzwald macht auf Dschungel
Die Tour beginnt mit dem eingangs geschilderten Gewitter. All die Vorurteile: Schwarzwald ist Forstweg, Schwarzwald ist Monokultur, Schwarzwald ist schwarz – der Schwarzwald wischt sie in wenigen Minuten weg. Der Seensteig erweist sich als seriöser Trail, der wie eine fröhliche Bergziege durch die Höhenlinien des Mittelgebirges mäandert. Stufen, Wurzeln, Farnteppiche. Der Schwarzwald macht hier schwer auf Dschungel.
Namengebend für den Seensteig sind die Karseen entlang der Route, von der letzten Eiszeit in Gletscherkessel gezwungen und nun zu wunderschönen Waldseen und Hochmooren erblüht. Der Ellbachsee etwa könnte sofort als Drehort für einen Fantasyfilm mit Elfen und Zwergen dienen, so idyllisch umschließen Moorwiesen und Felswände das klare Wasser. Wer will, kann hier 150 Höhenmeter auf einen Aussichtspunkt steigen und über den Nordschwarzwald bis nach Frankreich schauen.
Am Abend erreichen wir Camp Gutellbach, zwei der drei Zeltplätze sind bereits belegt: Anna und Sebastian wandern vier Tage von Camp zu Camp; Benny und seine Kids sind für eine »Familienabenteuernacht« im Wald. Wir staunen. Die Kinder strahlen.
Sieht aus wie Neuseeland, ist aber der Schwarzwald. Mit netten Leuten am Lagerfeuer: Drei Zelt-Teams dürfen pro Nacht die offiziellen Trekking-Camps nutzen.
Nur in sechs offiziellen Trekkingcamps ist das Übernachten in den Schutzgebieten erlaubt, entsprechend begehrt sind die Permits. Es wird ein netter Abend am Lagerfeuer. Unser Tütenmenü schlägt sich gar nicht schlecht: Pasta Primavera, Jägertopf, Mousse au Chocolat. Dazu gibt es einen annehmbaren Roten – auch aus der Tüte. Das Zelt ist aufgebaut, doch wir schlafen draußen. Das Gewitter hat den Schwarzwaldhimmel blankgeputzt. Die Sterne funkeln. Kann man das noch steigern?
Man kann. Am nächsten Nachmittag laufen wir im Hotel Traube Tonbach ein, duschen die Schwarzwald-Spuren ab und begeben uns zu Tisch. Nach einem Brand ist das Restaurant vorübergehend in einem Behelfsbau untergebracht, was der Atmosphäre aber keinen Abbruch tut. Schon beim Aperitif verfliegen unsere Bedenken hinsichtlich steifer Tischsitten. Die Crew der Schwarzwaldstube ist locker, die Gäste plaudern voller Vorfreude.
Für uns beginnt nun eine Abenteuerreise der anderen Art: Gerichte, die man noch nie gegessen hat – wie die Rotbarbe, die uns mit einem Bissen ans Mittelmeer beamt. Gerichte, die man schon gegessen, aber nie in solcher Intensität geschmeckt hat – wie der Lammrücken. Sieben Hauptgänge, einige Zwischengänge. Käse zum Niederknien. Ein Dessert aus Manjari-Schokolade und Schwarzkirsche, das man wohl nie wieder toppen wird. Vier glückliche Stunden schlemmen wir uns durch Degustationsmenü und Weinbegleitung. »Unglaublich. Das sollte jeder im Leben einmal gemacht haben«, fasst Phil unser Sterneküchen-Debut zusammen.
»Unglaublich. Das sollte jeder im Leben einmal gemacht haben«, fasst Phil unser Sternenküchen-Debüt zusammen.
Nach Feierabend probiert Chefkoch Torsten Michel, der von unserer »Sternenhimmel-Sterneküche-Tour« gehört hat, seinerseits unser Tütenmenü. »Sehr schokoladig«, lobt er die Mousse. »Diese Expeditionsnahrung ist gut gemachte Verpflegung für besondere Situationen.« Und lacht: »Zum Beispiel für wilde Gegenden, in denen man vielleicht selbst auf der Speisekarte steht.«
Epilog mit Sommelier
Zwischen Frühstück und Heimreise drehen wir noch eine Mountainbike-Runde. Die Trails sind erstaunlich tough. Baiersbronn macht keine falschen Versprechungen.
Zwei andere Biker ziehen gekonnt durchs Gehölz: Es sind Stéphane Gass und David Breuer, der Sommelier und der Restaurantleiter der Schwarzwaldstube. »Biken ist unser Ausgleichssport«, sagt Stéphane. »Spitzengastronomie bedeutet meist Großstadt. Hier bist du umgeben von Natur. Es ergänzt sich. Das macht Baiersbronn aus.«
Wir rollen heimwärts. Das war eine tolle Tour, eine neue Erfahrung, ein Abenteuer. Ganz ohne Neuseeland.
DAS NEHM ICH MIT
Alles für dein nächstes Biwak-Abenteuer
PHILIP BAUES
Der GM-Redakteuer hat sich auf Kajak-Trips durch Zentralasien schon wochenlang von Tütenfutter ernährt.