Stürmische Zeiten in Patagonien

Die Landschaft um die Torres del Paine in Patagonien ist atemberaubend schön und der gleichnamige Nationalpark entsprechend gut besucht. Doch mit Zelt auf der großen Trekkingrunde findet man noch immer einsa­me Momente, wie GM-Redakteur Julian Rohn festgestellt hat.

Julian Rohn

Wir sind gewarnt. Egal, wen man in Patagonien trifft – vom Backpacker, der sklavisch seinem Lonely Planet folgt, bis zum Edeltraveller, der mit Geländewagen von Lodge zu Luxusressort pendelt – alle war­en schon oder wollen noch in den Nationalpark Torres del Paine. Der Park im chilenischen Teil von Patagonien ist inzwischen Ziel regelrechter Völkerwanderungen. Wandern am und um das markante Paine-Massiv gehört zu einer Reise in den südlichsten Süden von Südamerika wie eine Eiffelturmbesteigung zum Wochenende in Paris. Es ist aber früh in der Saison, erst Mitte Dezember. Die Massen reisen später. Und die Umrundung der markanten Gipfel macht nur, wer auch ein Zelt mitschleppt. Viele Besucher bleiben in der Nähe der Lodges und der Seen. Wir sind zwei Jungs und ein Mädel und wollen uns warmlaufen, ehe es zum eigentlichen Projekt aufs Südliche Inlandeis gehen soll. Vergangene Woche sind wir auf der Isla Navarino im Schnee stecken geblieben. Jetzt suchen wir eine moderate Tour im Torres del Paine, die sich trotz des gerade typisch unbeständigen Wetters durchführen lässt. Warum nicht eine Runde auf Südamerikas berühmtester Trekkingtour – dem »Circuito« um das Torres-del-Paine-Massiv? Ein Logbuch:

Tag 1: Laguna Amarga – Campamento Serón

Nach zwei Stunden über Schotterpisten von Puerto Natales kommen wir im Park an. Wer will, kann sich noch weiter reinfahren lassen, aber wir laufen ab hier. Sobald wir aus dem Bus steigen, sind wir fast alleine. Die Sonne knallt – ab und an fangen sich seitliche Windböen in den großen Rucksäcken. Wie Bodychecks beim Eishockey. Oft brauchen wir zwei, drei Schritte, um sie ab­zufangen. Ein Vorgeschmack auf die nächsten Tage. Über dem Massi­v sammeln sich die Wolken, noch herrscht aber beste Sicht auf die Torres, die dem Park ihren Namen geben. Wie die drei Zinne­n in den Dolomiten stehen sie da. Wir begnügen uns mit dem Blick aus der Ferne und laufen immer entlang des Rio Paine bis zum Campamento Serón. Eine kleine Hütte mit Zeltplatz, ein Unterstand zum Kochen, eine Dusche und kaum andere Trekker.

Die meisten Besucher bleiben in der Nähe der Lodges und Seen. Auf der Umrundung ist man eher allein.

Tag 2: Campamento Serón – Refugio Dickson

Es wird patagonisch. Der Regen beginnt gleich am Morgen, und die Windböen frischen weiter auf. Oberhalb des Lago Paine sind sie erstmals so stark, dass wir aufpassen müssen, nicht vom Pfad gefegt zu werden. Der ist mit Holzpfählen markiert und nicht zu verfehlen. Im wettergeschützten Wald hämmern die Magellan­spechte neue Höhlen in die Bäume. Der rote Kopf der Männchen leuchtet im satten Grün des Waldes. Nach 20 Kilometern taucht das Refugi­o Dickson am Ufer des gleichnamigen Sees auf. Irgend­wo dahinter sollen Gletscher in den See kalben. Wir sehe­n vor allem Nebel und Wolken. Die Vorstellung, gleich ins feuchte Zelt zu krieche­n, zu kochen und auf die Nacht zu warten, gefällt uns nicht. Mit angeschlagener Trekkerehre gehen wir zum Refugio hinüber, setzen uns an den Ofen und trocknen unsere klammen Sachen. Später stolpert eine chilenische Mädelsgruppe herein. Sie tragen einfache Regenjacken, die Schlafsäcke sind in Müllbeutel gewickelt und außen am Rucksack befestigt. Viel ist da heute nicht trocken geblieben.

Tag 3: Refugio Dickson – Campamento Los Perros

Es geht bergan, und die Atmungsaktivität der Gore-Tex-Klamotten stößt längst an ihre Grenzen. Wir steigen durch tiefgrünen, australen Regenwald. Berge müssen hier auch irgendwo sein, wir sehe­n aber nichts. Das Campamento Los Perros steht, geschützt von krüppeligen Südbuchen, fast komplett unter Wasser. Um eine­n tot­en Baumstamm ist mit Planen eine Schutzhütte zum Koch­en errichtet. Beim Betreten treibt uns Rauch die Tränen in die Augen­. In einem alten Ölfass wird mit nassen Zweigen eine schmutz­ige Glut geschürt, um Socken, Shirts und Hosen zu trocknen. Eini­ge Trekker warten hier seit Tagen auf besseres Wetter, um über den Paso John Gardner im Torres del Paine zu gelangen. Es ist eine kleine UNO-Voll­versammlung. Ein top ausgerüstetes japanisches Pärchen löffe­lt Gefriergetrocknete­s aus Titangeschirr. Ihr Kocher ist ein Edel-Brenner aus dem Land der aufgehenden Sonne – dass die zwei eigent­lich in New York leben, stellt sich erst später heraus. Ein kaliforn­ischer Backpacker mit Armeerucksack und Turnschuhen versucht eine Beziehungskrise mit seiner komplett durchnässten Freundin abzuwenden. Die Füße einer Argentinierin steck­en in Plastiktüten, mit denen sie ihr einziges noch trockenes Paar Socke­n schützt. Weil auch ihre Jacke nass ist, dient eine weitere Tüte als Regencape. Selbst drei bergerprobte Eidgenossen haben gestern den Pass nicht geschafft, seither sitzen sie in der Hütte, essen Schoggi und verteidigen ihren Platz, an dem es nicht durchs Dach tropft. Sie erzählen, dass der Schneeregen weiter oben waage­recht durch die Luft peitschte. Sie hätten sich gefühlt wie in einem Windkanal mit integrierter Autowaschanlage. Morgen müsse­­n sie es schaffen oder alles wieder zurücklaufen, sonst verpasse­n sie ihren Rückflug. Später finden wir noch einen halb trocke­nen Platz für unser Zelt. Bei dem Regen kommt auch kein Ranger des Torres del Paine vorbei, um die Übernachtungspauschale zu kassieren.

Wie Güterzüge donnern die Böen nachts durchs Tal. Ohne Ohren­stöpsel wäre an Schlaf nicht zu denken.

Tag 4: Campamento Los Perros – Campamento Paso

Wir stehen um halb vier auf. Bis zehn Uhr müssen wir über den Pass sein. Später habe man zurzeit keine Chance, hatten uns die Ranger erzählt. Wie Güterzüge sind die Böen in der Nacht durchs Tal gedonnert. Ohne Ohrenstöpsel wäre an Schlaf nicht zu denken gewesen. Jetzt ist es etwas ruhiger, und der Regen hat nachgelassen. Wir packen das nasse Zelt zusammen. Bis zum Ende des matschigen Wäldchens laufen wir geschützt. Gleich eine der ersten Böen auf dem freien Geröllhang holt Felix von den Füßen. 75 Kilo Mensch plus 20 Kilo Rucksack fegt es einfach um. Ab jetzt kauern wir uns bei jedem nahenden Windstoß hin. Sobald es wieder ruhig ist, geht es weiter. Mal 100 Meter, mal weniger. Der Paso John Gardner ist gerade mal 1241 Meter hoch. Aber die Höhe bedeutet hier nichts. Ein vergleichbarer Pass in den Alpen würde auf über 2500 Metern liegen. Je höher wir steigen, desto stetiger bläst es uns entgegen, aber wir kommen durch. Ein schnelles Foto, und die Schlüsselstelle der Tour liegt hinter uns. Vor uns breitet sich der Grey-Gletscher aus, der sich vom Südlichen Inland­eis herabzieht. Ab jetzt wird das Wetter besser.

Vor dem Fenster läuft ganz großes Kino: Rollkoffer rattern über Holzstege, und Zeltaufbauversuche scheitern im Wind.

Tag 5: Campamento Paso – Refugio Paine Grande

Ein Tag auf dem Balkon. Das Campamento Paso liegt hoch über dem Grey-Gletscher, dem wir heute folgen. Unsere Sachen sind wieder trocken. Nur mein rechter Stiefel ist jetzt undicht und bleibt feucht. Es folgen einige Bachüberquerungen, die in den Tagen mit Regen noch spannender geworden wären. Bisher sind wir nur anderen Trekkern begegnet. Jetzt mehren sich Touristen mit Laufschuhen, Hüfttaschen und Leggings, die Tageswanderungen vom Refugio Paine Grande aus machen. Dorthin kann man per Fähre über den türkisblauen Lago Pehoé gelangen. Am Re­fugio werden wir vom Trubel etwas erschlagen. Wegen der Waldbrandgefahr ist das Kochen nur in einer kleinen Hütte erlaubt. Durch die Fenster blicken wir auf ganz großes Kino: outdoor für Einsteiger. Sogar Rollkoffer rattern hinter ihren Besitzern über die Holzstege zu den Zelten, die man hier mieten kann. Andere Leute bauen zum ersten Mal ein Zelt auf – die plötzlichen Windböen machen es zu einer unterhaltsamen Vorstellung.

Tag 6: Refugio Paine Grande – Valle del Francés

Das Zelt bleibt stehen, und mit leichtem Gepäck laufe ich allein zum Sonnenaufgang ins Valle del Francés. Das Tal auf der Vorderseite des Massivs gehört zur kurzen Standardtour, die viele Besucher hier in drei bis vier Tagen wandern. Der Anmarsch führt durch eine ehemalige Waldbrandzone. Im Park trifft man häufig auf solche Abschnitte, wo unvorsichtige Touristen und der starke Wind eine verhängnisvolle Kombination ergaben. Heute ist es wieder ein Wechselspiel von Sonne und Regen. Mal zeigen sich die markanten Cuernos del Paine mit ihrem zweifarbigen Gestein im rosa Licht, dann wieder verschwinden sie in Nebelschwaden und R­egen. Vom Paine Grande auf der gegenüberliegenden Talseite zeigen sich ohneh­in nur die untersten Gletscher. Als die Schauer weiter oben in Schneefall übergehen, drehe ich um.

Wanderer in der Landschaft Patagoniens
Julian Rohn

Tag 7: Refugio Paine Grande – Campamento Las Carretas

Zurück am Zelt. Sobald wir das Gelände des Refugio in Richtung Süden verlassen, sind wir wieder komplett allein. Die Menschenmassen konzentrieren sich im Park nur auf die leicht erreichbaren Punkte. Je weiter wir uns in die rollende Pampa hinausbewegen, desto besser wird der Blick auf das komplette Massiv. Wie zur Belohnu­ng lösen sich die Wolken immer mehr von den Gipfeln und geben die Sicht frei auf Zacken und Spitzen, die wir in der bisherig­en Woche nur erahnen konnten.

Tag 8: Campamento Las Carretas – Nationalpark-Administration

Um fünf Uhr morgens erleben wir den atemberaubendsten Sonnen­aufgang des ganzen Patagonientrips. Nach einer halben Stunde ist das Spektakel vorbei, und die Sonne taucht wieder hinte­r die Wolken. Der Rest des Weges ist lockeres Auslaufen zur Busstation an der Nationalparkverwaltung. Nach sieben Tagen mit Haferflocken und pappigen Nudeln mit Soße kreisen die Gedanken um Bier, Pizza und Steak später in Puerto Natales.

Text: Julian Rohn
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