Der Tälli-Klettersteig im Berner Oberland war der erste Klettersteig der Schweiz. Bis heute zählt er zu den spektakulärsten und landschaftlich großartigsten des Landes. Für berg- und konditionserprobte Kinder aber ein durchaus machbarer und spannender Eisenweg. Mit dem traumhaften Engstlensee als Ziel eine wahrlich große Bergunternehmung für kleine Ferratisten.
»Einen Klettersteig« ist die klare und schnelle Antwort auf die Frage an unsere beiden älteren Kinder Sara Lisa und Moritz, was sie denn gerne diesen Sommer unternehmen wollen. Etwas, das sie ohne die kleinen Geschwister machen können. Nach kurzem Überlegen und Recherchieren bastle ich eine Unternehmung, die zugleich die kleinen Geschwister einschließt. Während ich mit den zwei Großen einen Klettersteig begehen werde, können die zwei Kleinen mit meiner Partnerin Corinne den Klettersteig auf einem schönen Wanderweg umgehen. Unser anschließender Treffpunkt am Engstlensee bietet sich für ein gemeinsames Bad und Picknick an.
Wenige Wochen später startet unsere Tour. Während der Anreise erzähle ich Sara Lisa und Moritz vom Klettersteig östlich des Brienzersees, den wir in Angriff nehmen wollen: Der Tälli-Klettersteig im Gadmertal, dessen bis zu 1000 Meter hohen Felswände bei Kletterern aus aller Welt bekannt sind. In eine dieser Felsfluchten hat man 1993 den ersten richtigen Klettersteig der Schweiz gebaut. »In 2200 freiwillig geleisteten Arbeitsstunden haben wagemutige Bergführer 660 Löcher in den Fels gebohrt, 550 Eisenstifte gesetzt, 48 Meter Eisenleitern montiert und 1300 Meter Stahlseil verlegt«, erzähle ich den Kindern. Bei den 48 Meter Leitern werden die Ohren spitz, waren diese bislang immer ihre persönlichen Klettersteig-Highlights.
Mit Kinderarbeit zum Berghaus Tälli
Wir sind eine bergbegeisterte Familie, die es jobbedingt, aber auch wegen des Freizeitwerts, nach Thun an den Rand des Berner Oberlands verschlagen hat. Aus unserem »Basislager« sind Eiger, Mönch und Jungfrau am Ende des Thuner Sees zu sehen. Wenn es Job und Schule zulassen, treibt es uns mit unseren vier Kindern in die Berge. Für den Bergverlag Rother habe ich einige Wanderführer verfasst, auch den »Wandern mit Kindern im Berner Oberland«. Der Tälli-Klettersteig ist für mich kein Neuland und die Kinder besitzen genügend Trittsicherheit, um diesen zu meistern.
Das traumhaft gelegene Berghaus Tälli ist der Ausgangspunkt für unsere Tour. Da wir das Unternehmen maximal entspannt angehen wollen, haben wir eine Übernachtung in der sympathischen Hütte eingeplant. Die Erreichbarkeit des Gasthauses gefällt den Kindern besonders gut: Mit einer kleinen Gondelbahn – die selbst bedient werden muss – geht es in wenigen Minuten hinauf zum Berghaus. Das ist natürlich Kinderarbeit.
Für einen ordentlichen Kraftschub sorgt schon einmal das hervorragende und reichliche Abendessen. Wie es auf einer Berghütte für uns schon fast Tradition ist, packen wir im Anschluss an den Nachtisch das Uno-Spiel aus. Zocken, bis die Müdigkeit zuschlägt, fällt leider diesmal aus, da wir morgen alle zeitig, frisch und ausgeschlafen zu Werke gehen wollen.
Nach ausgiebigem Frühstück, einem schnellen Gruppenfoto und einigen Umarmungen verabschieden wir uns voneinander. Corinne und die beiden kleineren Geschwister können sich für den Start ihrer Wanderung noch etwas Zeit lassen, schließlich ist die Wandervariante deutlich kürzer als der Tälli-Klettersteig.
Zwei Gruppen, ein Ziel
Voller Elan und Vorfreude stürmen Sara Lisa und Moritz los. Schon bald kommen die ersten Drahtseile und die beiden klinken ihre Karabiner ein und aus, dass ich mit meinem schweren Rucksack kaum nachkomme. Was die beiden allerdings noch nicht wissen, ist, dass der eigentliche Klettersteig erst am Fuß der gewaltigen Wände der Gadmerflue losgeht. Von einem auf den anderen Moment begeben wir uns in die luftige Vertikale. Ein Einstieg, der bewusst so gewählt wurde, um alle Klettersteigkandidaten gleich zu Beginn zu prüfen. Die bis dahin schwungvolle Fortbewegung von Sara Lisa und Moritz erfährt eine abrupte Bremsung. Die beiden begeben sich vorsichtig und hochkonzentriert in die erste Querung.
Ich frage die beiden, ob ich jemanden ans Seil nehmen soll, das ich im Rucksack vorsorglich mitgenommen habe. »Ach nee, das geht schon so«, kommt die einstimmige Antwort. Und tatsächlich – nach wenigen Minuten ist die erste Nervosität verflogen und die beiden kommen immer mehr in den Fluss. Zu meinem Erstaunen wird die Begeisterung der Kinder ob der Ausgesetztheit und der atemberaubenden Landschaft immer grösser. Und wie schon erahnt, bieten die langen Leitern den beiden besonders viel Spaß. Sie wechseln sich in der Führung stets ab, während ich immer die Nachhut bilde.
Steckbrief Tälli-Klettersteig
Anforderungen
Ein langer, teilweise sehr ausgesetzter Klettersteig für ältere, absolut schwindelfreie Kinder (ab ca. 12) mit Bergerfahrung inklusive Erfahrung in leichten Klettersteigen. Schwierigkeit K3; gut 3 Std. Aufstieg, 2.15 Std. Abstieg; ca. 1100 Hm, davon 500 Hm Klettersteig. Klettersteigausrüstung (Gurt, Klettersteigset, Helm) wird benötigt. Viel leichter ist der alternative Wanderweg über das Sätteli: T2; gesamt 3.15 Std., 600 Hm auf, 490 Hm ab.
Einkehr und Übernachtung
Berghaus Tälli, Tel. +41 33 957 14 10, www.taelli.ch. Hotel Engstlenalp, Tel. +41 33 975 11 61, www.engstlenalp.ch. Rossbodenhütte, Tel. +41 76 509 61 34, www.engstlenalp-rossbodenhuette.ch.
Die luftige Tour
Von der Tällihütte auf blau-weiß markiertem und zuletzt versichertem Steig in zusehends abschüssigerem Gelände zum Wandfuß der Gadmerflue, wo der eigentliche Klettersteig beginnt. Nach dem atemberaubenden Einstieg legt sich die Wand leicht zurück. Der Weg schleicht an den Schwachstellen der Mauer entlang und benützt dabei geschickt grasige Bänder und gestufte Absätze. Ausstiege gibt es nicht. Vom »Gipfel« des Klettersteigs auf der Gadmerflue auf blau-weiß markierter Route über Geröll und Gras hinab bis zum Hangweg, der bei P.2121 m erreicht wird. Links halten und auf dem rot-weiß markierten Wanderweg zur Engstlenalp.
Die gemütliche Variante
Von der Tällihütte den grasigen Südhang des Tällistock queren und zuletzt im Zickzack steil hinauf in die felsige Scharte des Sätteli (2115 m). Durch Geröll- und Grashänge auf der anderen Seite hinab. Anschließend auf dem Hangweg in leichtem Auf und Ab unter den Abstürzen von Tällistock und Gadmerflue bis zum Engstlensee und in wenigen Minuten zum Hotel Engstlenalp.
An- und Abreise
Der Ausgangspunkt ist das Berghaus Tälli bei der Bergstation der Tällibahn (1726 m); zur Talstation besteht eine Busverbindung vom Bahnhof Innertkirchen Grimseltor. Die Tällibahn ist von Juni bis Oktober in Betrieb (+41 33 982 26 26, www.grimselwelt.ch). Der Endpunkt ist das Hotel Engstlenalp (1835 m); Der Bus von der Engstlenalp zum Bahnhof Innertkirchen Grimseltor fährt von Mitte Juni bis Mitte Oktober.
Nach knapp der Hälfte der Strecke treffen wir auf eine geräumige Höhle mit einer Holzbank. Zeit für eine ausgiebige Pause – zwar ist das Frühstück noch gar nicht lange her, doch Kinder haben ja bekannterweise eine andere Kalorienverwertung als Erwachsene. Prompt überholt uns ein Vierergruppe aus Norwegen, die hell begeistert von den jungen Gipfelstürmern sind (während ich fleißig am Übersetzen bin). Das begeistert wiederum Sara Lisa und Moritz. Klar, dass sie sich anschließend nicht von den Nordlichtern abhängen lassen wollen. So muss ich doch ein wenig die Handbremse anziehen und ihnen erklären, dass ein gewisser Abstand zu einer Gruppe oberhalb in einem Klettersteig zur Sicherheit beiträgt.
Nach einigen weiteren Leitern und spannenden Kraxelpassagen ist dann schon die Gipfelluft zu spüren. Sobald der letzte Meter Drahtseil hinter uns liegt, setzt es bei den Kindern nochmal verborgene Kräfte frei. Sie laufen mir das letzte kurze Stück zum Gipfel regelrecht davon, um unseren dort noch verweilenden norwegischen Kollegen freudig zu signalisieren, dass wir nicht so viel langsamer waren.
Ausrüstungstipps fürs Wandern mit Kindern
Kinder sind mehr als kleine Erwachsene. Ihr Material beanspruchen sie stark, gleichzeitig lassen sich Rucksäcke und Co. nicht einfach schrumpfen und so kindertauglich machen. Wir haben für euch zahlreiche Kaufberatungen und Tipps für Wanderungen und Trekkingtouren mit Kindern.
Der Gipfel ist erreicht
Der »Gipfel« ist eher ein unspektakuläres Felsplateau, was der Freude und dem Stolz von Sara Lisa und Moritz, diesen Steig souverän bewältigt zu haben, keinerlei Abbruch tut. Im nunmehr vergleichsweise leichten Abstieg sind die beiden ob ihrer Leistung so überschwänglich, dass ihre Freude wohl fast bis zur anderen Talseite zu hören ist. Ein paar übriggebliebene Schneefelder tragen dazu noch bei, da die beiden schnell herausgefunden haben, dass man die Schneefelder auch auf dem Hosenboden bestens hinab kommt.
Beschwingt ist weiterhin auch noch der gesamte Weg zum Engstlensee – je näher wir diesem kommen, umso weniger können die beiden erwarten, endlich den Geschwistern und Corinne vom Klettersteig-Abenteuer zu erzählen. Kaum betreten wir die flachen Wiesen entlang des Seeufers, kommen die zwei kleineren Geschwister uns entgegengerannt, als ob wir uns wochenlang nicht gesehen hätten. Auch sie sind erst wenige Minuten zuvor von ihrer gemütlichen Wanderung am Engstlensee angekommen. Das perfekte Timing, um gemeinsam in die Badesachen zu schlüpfen, ins kalte Nass zu springen und endlich die heißen und metallischen Klettersteighände abzukühlen – bevor es zum Abschluss nach einem ausgiebigen Picknick noch ein großes und wohlverdientes Eis auf der Engstlenalp gibt.
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