Mit der ersten großen Reise ist es ein bisschen wie mit der ersten großen Liebe: Man vergisst sie nie. Ich habe mein Herz schon früh an eine Tropeninsel im Indischen Ozean verloren, die ab Paris per Inlandsflug erreichbar ist. La Réunion heißt die Hübsche und ist ein französisches Übersee-Départment bei Madagaskar. Ich war dort erstmals Mitte der 90er-Jahre als 20-Jähriger mit einer Gruppe Kajakfahrer. Wir hatten gehört, dass die Regenzeit im Januar/Februar die teils nur 20 Kilometer langen Flüsse auf dem gerade mal 50 x 70 Kilometer großen Oval in reißende Sturzbäche verwandeln soll. Viele Infos hatten wir nicht, allein ein Filmchen einer italienischen Paddelgruppe, damals auf VHS-Kassette herumgereicht wie Hehlerware, brachte etwas Licht ins Dunkel. Darin formulierte einer der Teilnehmer die Reize des Eilands treffend: »Come la corsica ai tropici« – wie ein Korsika in den Tropen. Die Mittelmeerinsel war seinerzeit der Hotspot für europäische Kajakfreaks, nur eben an Ostern, wenn die Bäche während der Schneeschmelze genügend Wasser führten, oft noch lausig kalt und die Vegetation ein Trauerspiel. Was konnte es also Schöneres geben als perfektes Wildwasser bei 30 Grad unter Palmen und mit Sonnenschein? Nun, Sonne, so viel sei verraten, gab es bei meinem ersten Trip nur sporadisch. Dafür schüttete es – wie ja von uns gewollt – wie aus Kübeln.
Trekkingparadies der Extraklasse
Wenn es mal nicht regnete, nutzten wir die trockenen Tage für Wanderungen im Inselinneren. Und waren genauso begeistert wie von den Flüssen. Die drei zerklüfteten Talkessel, gruppiert um den über 3000 Meter hohen Piton des Neiges in Inselmitte, sind ein Trekkingparadies der Extraklasse. Hier einmal mit dem Rucksack mehrere Tage durch den Dschungel wandern, so der Tenor, wäre die Anreise auch ohne Kajak wert.
In den Folgejahren kam ich nur schwer von meiner ersten Liebe los. Zwei weitere Male hatte ich ein Rendezvous zur Regenzeit, mein Kajak hatte ich vorsorglich gleich dagelassen, doch zum Wandern blieb wieder zu wenig Zeit.
Fliegenschiss im Indischen Ozean
25 Jahre später. Des Vergnügens vierter Streich. Mitte November lande ich auf dem Flughafen nahe der Hauptstadt Saint-Denis. Je nach Sitzplatz kann man schon beim Anflug einen kompletten Blick auf die Vulkaninsel werfen. Unweigerlich kommt dabei die Frage auf, was man die nächsten zwei Wochen denn bitte auf diesem kleinen Fliegenschiss anstellen soll. Doch bitte nicht von der Grundfläche täuschen lassen, die zerklüftete Oberfläche ist um ein Vielfaches größer.
»Wer abends in Paris in den Flieger steigt, kann morgens loswandern.«
Entstanden ist das kleine Eiland vor rund drei Millionen Jahren, als sich der Vulkan Piton des Neiges aus dem Meer erhob. Während der dafür verantwortliche »Hotspot« stationär blieb, wanderte die Insel durch die Kontinentaldrift langsam über selbigen und vergrößerte sich dadurch stetig. Heute ist der Schneeberg erloschen, dafür verdient sich der Piton de la Fournaise ganz im Süden alle paar Monate den Titel als einer der aktivsten Vulkane der Erde. Wie Réunion in zehn Millionen Jahren aussieht, kann man übrigens auf der älteren Nachbarinsel Mauritius sehen. Dort ist der Vulkan erloschen und Wind und Wasser haben die einst ähnlich hohen Berge auf 800 Meter abgetragen, die Konturen geglättet.
Einst eine französische Kolonie
Doch wie bitte wurde La Réunion überhaupt französisch? Entdeckt hat die Insel 1507 der portugiesische Seefahrer Pedro Mascarenhas. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde sie – mangels Suez-Kanal – zur regelmäßigen Zwischenstation englischer und niederländischer Schiffe auf dem Weg nach Indien. Schließlich landeten Franzosen auf der Insel, die sie 1640 im Namen des Königs Ludwig XIII. zu einer französischen Besitzung erklärten. Im Zuge der Kolonialisierung kamen 1665 erstmals französische Siedler auf die vormals unbewohnte Insel, die für die Plantagenwirtschaft Sklaven aus Madagaskar, Ostafrika und Indien dorthin verschleppten. Mit dem Ende der Sklaverei 1848 erhielten die rund 60 000 Sklaven denselben Status wie die bis dahin 35 000 Bürger. Deren gemeinsame Nachkommen bilden heute eine verhältnismäßig homogene Gesellschaft und werden zusammen als Kreolen bezeichnet.
Losgeflogen im tristen Novembergrau bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, könnte der Kontrast nicht größer sein, als meine zwei Mitreisenden und ich das klimatisierte Flughafengebäude verlassen. Die hohe Luftfeuchte und muckelige 28 Grad rufen förmlich nach einer Akklimatisierung, bevor wir die Wanderschuhe schnüren. Der Plan: Erst mal die Füße in den Indischen Ozean strecken und einen ersten Sonnenuntergang bestaunen. Im Anschluss quälen wir jedoch unseren kleinen Mietwagen die kurvenreiche Bergstraße zum Piton Maido hinauf. Von 0 auf 2190 Meter und von 28 auf 8 Grad in ungefähr 45 Minuten. Hier breiten wir in einer Picknickhütte unsere Schlafsäcke aus, linsen in einen spektakulären Sternenhimmel und frösteln wohlig vor dem Einschlafen.
»Der autofreie Talkessel Mafate gehört ganz oben auf die To-hike-Liste.«
Am nächsten Morgen lotse ich Marianna und Jobst im Halbdunkel ein paar Meter weiter zu einer Felskante, von der der Blick in den Cirque de Mafate fällt. Sprachlosigkeit macht sich breit. Der straßenlose Talkessel, in dem ein paar kleine Dörfchen auf winzigen Sonnenbalkonen thronen, ist durchzogen von Hunderte Meter tiefen Schluchten. Er ist das Wanderparadies schlechthin auf La Réunion und steht auch auf unserer Wunschliste ganz oben. Schnell wird jedoch klar: Im Mafate gibt es nur runter oder rauf und auch wenn das Ziel schon zum Greifen nahe scheint, können zwei kleine Schluchten dazwischen noch mal 1000 Höhenmeter und drei Stunden Gehzeit bedeuten.
Regen ist flüssiger Sonnenschein
Da das Wetter jedoch aktuell feuchter als normal zu dieser Jahreszeit ausfällt, müssen wir zunächst kleinere Brötchen backen. Bis zur Mittagszeit ist es meist sonnig und oft sogar wolkenlos, doch dann bilden sich im Nullkommanix Quellwolken, aus denen es wenig später schüttet wie aus Eimern. Kaum verliert die Sonne am späten Nachmittag an Kraft, ist der Spuk vorbei. Zurück bleiben matschige Wanderwege und ein dampfender Dschungel. Diese Schauer lassen erahnen, zu welchen Superlativen Réunion in der Regenzeit fähig ist. An keinem Ort der Erde fällt so schnell so viel Niederschlag. An der Ostküste wurden am 16. März 1952 insgesamt 1870 Millimeter in 24 Stunden gemessen. 2007 wurden innerhalb von drei Tagen 3929 Millimeter gemessen. Zum Vergleich: Deutschland hat einen durchschnittlichen Jahresniederschlag von rund 800 Millimetern.
Eine erste Tagestour führt uns vom Ende der Straße in die Schlucht von Takamaka. Aus allen Himmelsrichtungen stürzen sich Wasserfälle in eine tiefe Schlucht, deren Ausgang wir nur erahnen können. Die Wanderwege hier sind selten begangen und so erfordert das Dickicht schnell seinen Tribut in Form kleiner Schnitte und Schürfwunden. Dafür treffen wir auf der gesamten Tour keine Menschenseele und haben auch den badewarmen Pool am Ende unseres Pfades, in den ein weiterer Wasserfall donnert, ganz für uns allein.
Es folgen drei weitere Tageswanderungen, die man keinesfalls verpassen sollte: »Trou de Fer«, der Vulkan Piton de la Fournaise und »La Chapelle«. Diese Kapelle wurde vom kleinen Rinnsal Bras de Cilaos Hunderte Meter tief ins Basaltgestein gefräst, und wenn gegen elf Uhr die Sonnenstrahlen von oben in den Spalt fallen, wird die Kapelle sogar zur Kathedrale.
Frieren in den Tropen
Da das Wetter weiterhin nicht kooperiert, streichen wir den Cirque de Mafate notgedrungen als großes Reisefinale von der Liste. Den 3069 Meter hohen Piton des Neiges wollen wir uns vor dem Rückflug aber keinesfalls entgehen lassen. So steigen wir mit vollbepackten Rucksäcken aus dem Cirque de Cilaos zur Gîte du Piton des Neiges auf. 1700 Höhenmeter sind es aus dem Tal bis aufs Dach des Indischen Ozeans.
Der Weg führt nahezu schnurstracks nach oben durch einen mystischen Regenwald. An der Hütte angekommen, schlägt die nachmittägliche Regenzeit zu und für zwei Stunden regnet es Hunde, Katzen und Ponys. Doch im Gegensatz zu den zwei Dutzend anderen Hikern auf der Hütte wissen wir aus der Erfahrung der letzten Tage: Auf Regen folgt Sonnenschein. So stapfen wir eineinhalb Stunden vor Sonnenuntergang einfach im Nassen durch die Wolkenschwaden gen Gipfel.
Sturzbäche vom Gipfel
Auf dem Weg kommen uns regelrechte Sturzbäche entgegen, doch als wir gegen 17 Uhr den Gipfel erreichen, beginnt es tatsächlich aufzuklaren. Und wie. Die Wolken in den Talkesseln brodeln, als würde der Teufel ein Süppchen darin kochen. Immer wieder lösen sich Fetzen daraus, steigen empor und verschwinden als Wasserdampf in die Atmosphäre. Regen für morgen? Auch die Sonne zeigt sich für einen Moment und taucht die Szenerie in ein goldenes Licht. Jetzt schlägt die Stunde unserer vollen Rucksäcke. Statt mit einsetzender Dunkelheit wieder zur Hütte abzusteigen, bauen wir die Zelte auf und keine Stunde später liegen wir in den Daunen. Unsere letzte Nacht im Freien. Der Himmel ist klar und so sinken die Temperaturen gen Gefrierpunkt. Sollen wir alle drei Paar Socken, die wir im Rucksack haben, anziehen? Corsica ai tropici, so viel ist sicher, ist das hier oben definitiv nicht – was der Liebe aber keinen Abbruch tut.
Das nehm ich mit:
Alles für dein nächstes Inseltrekking in den Tropen
La Réunion mit Wikinger
Wer erstmals auf der Insel ist und sich lieber einer kompetenten Reiseleitung anvertraut, findet bei Wikinger Reisen (www.wikinger-reisen.de) eine 16-tägige Wanderreise, durchgeführt an fünf Terminen in 2022, die kein Insel-Highlight ausspart. Drei Tage davon verbringt man allein im Cirque de Mafate. Doch auch die Küstenorte Saint-Benoît, St. Pierre und St. Gilles mit ihrer lebhaften Inselkultur und der kreolischen Küche kommen nicht zu kurz.