Al Norte – zu den Sternen

Ein fabelhafter Roadtrip in die Atacama-Wüste samt unerhörter Chile-Schwärmerei. Zur Nachahmung empfohlen!

Michael Neumann

Ein trister Märztag in der Redaktion. Telefon! Volkswagen am Apparat. Ob wir uns vorstellen könnten, ein neues Auto, den Tiguan Allspace, auf seine »Roadtrip-Tauglichkeit« zu testen? Wo? Halbwegs egal, nur eine Bedingung: Das Wunschziel sollte idealerweise in Südamerika liegen, da das Auto in Mexiko gebaut werde und dort zuerst verfügbar sei. Nun, lässt sich einrichten … Danke und auf Wiederhören!

Kaum liegt der Hörer auf der Gabel, geht das Fernweh mit uns durch. Ein Freibrief für Südamerika, kann uns mal bitte einer kneifen? Länder werden in die Runde geschmissen. Peru? Bolivien? Chile? Da auch bei uns die Liste der Orte, die man mal gesehen haben sollte, ins Unendliche geht, rattert es gehörig. Wie heißt der Wagen doch gleich? Allspace? Bezieht sich sicher auf die Größe. Doch warum den Namen nicht neu interpretieren? Ganz oben auf der Wunschzielliste steht nämlich »Sterne gucken in der Atacama«. Gilt doch die Wüste im Norden Chiles als der Ort auf der Welt, wo Milchstraße und Galaxie am besten zu sehen sind. Möglich machen es die erreichbare Höhe von 2500 bis 5200 Meter, die minimale Lichtverschmutzung durch das Fehlen großer Städte und die über Monate stabile Wetterlage, die in der Fliegersprache gern als CAVU beschrieben wird: Clear Above Visibility Unrestricted. Sprich: Weiter kann das menschliche Auge eh nicht gucken. Um dorthin zu gelangen, würden wir von Chiles Hauptstadt Santiago 1700 Kilometer gen Norden nach San Pedro de Atacama fahren. Während nahezu alle Touristen diese Strecke per Flieger zurücklegen, wollen wir uns der Atacama behutsam nähern, um ihre Ausmaße und die Veränderung der Landschaft vom immergrünen Santiago hin zum trockensten Ort der Welt zu begreifen.

Michael Neumann

Roadtrip, Baby!

Volkswagen ist einverstanden und so schweift der Blick endlich in den Kalender. Um optimale Bedingungen zum Sternegucken zu haben, braucht es Neumond. Denn strahlt dieser zu hell, raubt er der Milchstraße die Strahlkraft. Letztlich machen wir ein dickes Kreuz am 23. Juli. An diesem Tag steht der Mond komplett im Erdschatten und kann kein Sonnenlicht reflektieren. Schnell sind auch zwei Mitreisende gefunden: Gex und seine Freundin Mona. Mit Gex war ich bereits zweimal im August zum Skifahren in Chile. Mit seinem sonnigen Gemüt und seiner Weltoffenheit ist er der ideale Travelbuddy. Und seine schwäbische Grundtugend der Sparsamkeit schützt die Reisekasse vor etwaigen Trinkgelagen und Glücksspiel-Exzessen. Und da Mona ebenfalls von der Alb ist, vermute ich bei ihr ähnliche Anlagen.

Moment mal, fiel da nicht eben im Zusammenhang mit dem Monat August das Wort Skifahren? Ja, genau, von Mitte Juni bis Mitte September ist in Chile, da zu Mitteleuropa genau gegenläufig gelegen, Winter. Doch keine Bange, in der Atacama scheint eigentlich immer die Sonne und auch zur »dunklen Jahreszeit« klettert das Quecksilber tagsüber bis auf wohlige 25 Grad.

Trotzdem packen wir neben Zelt und Schlafsäcken auch mal prophylaktisch die Tourenski ein, sicher ist sicher. Und tatsächlich, als wir am 17. Juli in Santiago landen, hatte es am Vortag gerade frisch geschneit. So viel wie seit 40 Jahren nicht mehr. Selbst in Santiago, nur ein paar Hundert Meter über dem Meer gelegen, lagen zehn Zentimeter. Jetzt, 24 Stunden später, ist der Spuk jedoch längst wieder vorbei. Die Sonne lacht wie gewohnt vom blauen Himmel und das Projekt Atacama kann beginnen.

Ist das hier noch die Erde, oder sind wir schon auf dem Mars? In der Atacama wähnt man sich oft auf einem anderen Planeten.

Das Auto, der Tiguan Allspace, eine um 20 Zentimeter verlängerte Version des Tiguan, entpuppt sich als perfekt für unser Vorhaben. Er bietet Platz in Hülle und Fülle und hat viele gängige Assistenzsysteme an Bord, die das Streckemachen so bequem wie möglich machen. Dazu Allradantrieb und ausreichend Bodenfreiheit für die Schotterpisten und Bergpässe, die da ohne Frage kommen werden. Klappt man die Rückbank um, ergeben sich zwei Meter Liegelänge – und fertig ist das Doppelzimmer in der Wüste. Allein die weißen Sitzbezüge geben Abzüge in Anbetracht der Beherbergung staubiger Wanderer.

Fahren, schauen, staunen – repeat

Schnell sind wir aus Santiago raus und nehmen Kurs Richtung Norden. 19 Stunden bis San Pedro vermeldet das Smartphone-Navi. Na dann los! Zunächst geht es an der Küste entlang, wo sich bereits die Sonne anschickt, standesgemäß im Meer zu versinken. Also Blinker rechts und runter zum Strand. Nachdem das Schauspiel vorbei ist, speisen wir in einem nahe gelegenen Fischlokal und ziehen anschließend in die Allspace-Suite. Okay, zugegeben, einer muss daneben ins Zelt. Schade nur, dass die Sonne nicht auch im Westen aufgeht. Denn am nächsten Morgen ist es zwar schon früh hell, doch es dauert, bis der Planet über die beinahe 7000 Meter hohe Andenkette geklettert ist. Also das Zelt samt Morgentau abgebaut und weiter.

Mit 4200 Kilometern von Nord nach Süd, aber nur 200 Kilometer Breite im Durchschnitt eignet sich Chile eher schlecht für einen dieser Silhouettenaufkleber à la Sylt oder Bodensee. Sähe wohl eher wie ein Lackkratzer aus. Aber ein schöner. Denn was Chile von oben bis unten zu bieten hat, ist allerhand. An der Grenze zu Peru lockt eben jene angepeilte Atacama. Sie gilt als trockenster Fleck der Welt und erst jüngst haben Wissenschaftler in einem Wettbewerb nach dem allertrockensten Fleck darin gesucht. Gewonnen hat Maria Elena South mit 14 % Bodenfeuchte in einem Meter Tiefe – wie auf dem Mars.

Michael Neumann

In der Mitte lockt die Metropole Santiago mit ihren umliegenden Weinregionen die Kulinariker, während die nahe Hafenstadt Valparaiso sprachlos macht. Erbaut auf 40 steilen Hügeln am Pazifik, sind die Straßen von San Francisco ein Kindergarten dagegen. Treppen ersetzen hier die Bürgersteige und an manchen Sackgassen fährt man lieber rückwärts zurück, als zu wenden. Nicht, dass man zu Tale kugelt, sobald das Auto quer steht. Eine Show sind auch die Zehntausend kunstvollen Graffitis, die noch die letzte Wellblechhütte zum MOMA-Außenposten adeln. Weiter südlich schließt sich das fruchtbare Seengebiet an. Hier ragen Stratovulkane zwischen Araukarien hervor, Urzeitbäumen, fehlen nur die Dinosaurier. Und dann, als spektakulärer Schlusspunkt: Patagonien mit dem Torres-del-Paine-Nationalpark. Mehr geht einfach nicht in Sachen Schauen und Staunen.

Stellenweise lässt hervortretendes Salz die Atacama aussehen wie ein Winterwonderland.

Bei Chanaral verabschiedet sich die bis dahin großteils zweispurig ausgebaute Panamericana ins Inland. Überholen ist aber weiterhin kein Problem, denn auf den nun folgenden Schnurgeraden lässt sich Gegenverkehr schon aus zehn Kilometer Entfernung erkennen. Über Hunderte Kilometer ist die Landschaft von grandioser Eintönigkeit. Es dauert nicht lange, bis wir vollends dieser Natur erlegen sind. Metallicas »Nothing Else Matters«, das in Endlosschleife aus dem Dynaudio-Soundsystem donnert, entfaltet sich in dieser Umgebung zu ungeahnter Wucht. Man stelle sich einfach vor, man würde die Strecke von München nach Hamburg über den Mond fahren.

Das nächste Highlight ist eher was für Technikfreaks. Im staubigen La Negra bei Antafagosta dreht sich alles um den Bergbau. Hier decken sich die umliegenden Kupferminen mit Material ein. Und wie. Links und rechts der Straße stehen turmhohe Technikmonster mit Reifen hoch wie Einfamilienhäuser, und die Spelunken dazwischen erinnern verdammt an die Titty-Twister-Bar aus »From Dusk Till Dawn«. Ein Blick auf Google Earth lohnt. Mad Max trifft Tarantino. Passend auch die Werbe- tafeln am Ortseingang. Diese preisen nicht Coca-Cola, Smartphones oder Waschmittel, sondern ködern den Vorarbeiter mit mannshohen Notstromaggregaten und generalüberholten Muldenkippern.

Am Abend des zweiten Tages laufen wir schließlich in San Pedro ein. Längst hat sich diese Ansammlung von Lehmhütten um eine pittoreske Kirche zu einem veritablen Touristenmagnet gemausert. San Pedro ist DER Dreh- und Angelpunkt für Besucher der Atacama und des nahen Altiplano, des Hochlands an der Grenze zu Bolivien. Gelegen auf 2500 Metern, kann man sich hier leicht verdaulicher Sightseeing-Kost hingeben, aber auch einige »leichte« 6000er erklimmen. Vorausgesetzt, man ist entsprechend akklimatisiert. Rund eine Woche dauert es, bis man sich langsam an die 5000er-Grenze wagen kann, nach zwei Wochen sind auch Vulkane jenseits der 6000 Meter möglich. Die Schwierigkeiten halten sich dabei meist in Grenzen, oft stapft man schnurstracks die Direttissima hoch. Gerät man allerdings ins Stampfen wie eine altersschwache Dampflok, sollte man zur Vermeidung der Höhenkrankheit schleunigst umdrehen.

Wenn die Sonne untergeht, fällt die Temperatur von plus 20 auf minus 10 Grad.

Wir vertagen etwaige Vulkanbesteigungen jedoch aufs nächste Mal und widmen uns den klassischen Highlights der Region. Als da wären: das Geysirfeld von El Tatio, wo durch brodelnde Fumarolen der Erdmittelpunkt auf sich aufmerksam macht. Die heißen Quellen von Puritama. Die Lagunen voller Flamingos. Die Fahrt mit dem Auto Richtung Bolivien. Von San Pedro führt eine Teerstraße schnurstracks Richtung Osten und macht über 2000 Höhenmeter ohne eine einzige Kurve. 4800 Meter meldet oben der Höhenmesser. Unterwegs sehen wir einzelne Reiseradler, die sich den ganzen Tag über von der Gegenseite hier hochgequält haben und denen nun die Schussfahrt ihres Lebens bevorsteht. Unsere Form der Ertüchtigung sind Wanderungen durch das Valle de la Luna bei Sonnenaufgang. Während sich hier tagsüber die Touristen stapeln, haben wir in den kühlen Morgenstunden diesen wohl schönsten Fleck der Atacama komplett für uns allein. Kleine Pfade und Rundwege durchziehen die Salzpfanne, die durch Erosion und Tektonik einmal auf links gekrempelt scheint, und mit jeder Biegung bieten sich neue, gänzlich andere Perspektiven auf nie zuvor gesehene Gesteinsformationen. Wir wissen nicht, welcher Schöpfer letztlich dafür verantwortlich ist, doch er hat definitiv einen guten Job gemacht.

Sterne zählen, Wein trinken

Und dann wäre da noch der Hauptgrund unserer Reise, der Sternenhimmel. Dieser läuft schon eine Stunde nach Sonnenuntergang zur Höchstform auf. Dank Neumond übernimmt stattdessen die Milchstraße das Ausleuchten der Umgebung. Wir bauen den Campingstuhl auf, köpfen eine gute Flasche Rotwein, staunen schweigend und fügen uns in unsere Existenz als Nichts. Man stelle sich das mal vor. Wollte man allein unsere Galaxie mit dem Auto durchfahren, den Tempomat auf 100 Kilometer pro Stunde eingestellt, bräuchte man dafür eine Million mal eine Million Jahre. Zu weit für unseren nächsten Roadtrip. Leider gelingt es uns nicht, einen Besuchstermin im nahen ALMA-Observatorium der Europäischen Südsternwarte auszumachen. Dort stehen auf 5200 Meter Höhe 66 Einzelteleskope, die sich per Supercomputer zu einem großen Ganzen zusammenschalten lassen – das derzeit leistungsfähigste Teleskop überhaupt. Mit ALMA können Astronomen die Grundbausteine von Sternen, Planetensystemen, Galaxien und sogar des Lebens selbst näher untersuchen.

Ähnlich einmalig wie ALMA ist die Explora-Lodge, in der wir das durch die Übernachtungen im Allspace gesparte Reisebudget auf den Kopf hauen. Und zwar richtig. Gelegen am Ortsrand von San Pedro und verborgen hinter einer dicken Lehmmauer verbirgt sich ein Refugium ohnegleichen, bei dem das All-inclusive-Konzept noch einmal neu definiert wird. Hier sind nicht nur drei Mahlzeiten inklusive, sondern auch die passende Weinbegleitung inbegriffen. Für uns, bei denen sonst eher Pasta Rosso auf der Selbstkoch-Speisekarte steht, eine gänzlich neue Erfahrung. Das Explora-Konzept geht aber noch viel weiter. All-inclusive ist auch die »Exploration«. Jeden Tag stehen Dutzende Tagesausflüge zur Auswahl, durchgeführt von eigens ausgebildeten Guides. Seien es der halbtägige Besuch heißer Quellen, der Ritt zu Pferd durch die Dünen oder eine zwölfstündige Besteigung des 5918 Meter hohe Licancabur – Explora macht wirklich jeden Gast glücklich.

Michael Neumann

Allein die Heißluftballontour, die wir am nächsten Tag unternehmen, ist nicht inklusive. Lohnend ist sie trotzdem. Und so schweben wir mit viel heißer Luft im Gepäck über der Atacama und genießen den Sonnenaufgang. Ob es nicht schwierig sei mit der Abholung in dieser weglosen Wildnis, wollen wir wissen? Nicht wirklich, meint Pilot Andy. Pro hundert Höhenmeter wehe der Wind hier in eine andere Richtung und dank der Infos aus einem zweiten Ballon, der mit uns aufgestiegen ist, könne man durchs Auf und Ab den Ballon so steuern, dass man mehr oder weniger am Startplatz wieder runterkomme. Und tatsächlich, nach zwei Stunden landen wir butterweich neben einer Schotterstraße, nur 500 Meter vom Startort entfernt.

Nach einer fantastischen Woche in der Atacama, fahren wir mit immer noch offenem Mund zurück gen Süden. Eine solche Naturlandschaft in solchen Dimensionen hatte niemand von uns zuvor gesehen. So ist uns auch nicht bange vor den neuerlich 1700 Kilometern Fahrtstrecke, denn wir wissen: Es gibt viel zu gucken.

Michael Neumann

Ski geil im Juli

Und einen haben wir ja noch. Schließlich fährt seit Anbeginn der Reise ein Skibag mit im Allspace spazieren. Und die Tourenski darin sollen nun zum Einsatz kommen. In welchem Land der Erde kann man schließlich Sommer und Winter in einer Reise kombinieren? Für Letzteres fahren wir kurz vor Santiago links ins Gebüsch, um einen alten Freund zu treffen: Toni Sponar. Der 83-Jährige ist nach dem Zweiten Weltkrieg von der Oststeiermark nach Kanada ausgewandert und dort per Zufall Skilehrer geworden. Dieser Job führte ihn zunächst an die Ostküste der USA und wenig später auch nach Chile, wo er fortan von Juli bis September in Portillo unterrichtete. Irgendwann in den 80er-Jahren ergab sich dann die Möglichkeit, zwei Täler im Schatten des Aconcagua zu erwerben, wo er noch heute zusammen mit seinem Sohn ein kleines Skigebiet betreibt. Ohne Unterbrechung hat Toni so unwahrscheinliche 106 Skisaisons auf dem Kerbholz.

Toni Sponar hat mit 83 Jahren 106 Skisaisons am Stück erlebt. Wie das geht? Nun …

Nachdem wir die holprige Straße nach Ski Arpa bewältigt haben, freuen wir uns auf ein paar Skitouren und die unglaublichen Geschichten von Toni. Mit unseren gerade zurückgelegten 1700 Kilometern etwa können wir ihn nicht beeindrucken, ist er doch in den 70er-Jahren insgesamt drei Mal von Aspen in Colorado, wo er noch heute seinen Hauptwohnsitz hat, mit dem VW-Bus bis nach Chile gefahren. Ohne Navi und Airbnb, dafür mit einem Surfbrett auf dem Dach und drei Monaten Zeit im Gepäck.
Falls Volkswagen noch mal fragt, ob wir ein Auto ausprobieren wollen, hätten wir also schon eine Idee …

Text: Michael Neumann