Alberta: Wo der Winter wohnt

Wer den Winter nur noch aus Kindheits­erinnerungen kennt, sollte schnell eine Reise nach Alberta buchen, wo Väterchen Frost und Frau Holle nach wie vor ganze Arbeit leisten.

Paul Zizka
Wer den Winter nur noch aus Kindheits­erinnerungen kennt, sollte schnell eine Reise nach Alberta buchen, wo Väterchen Frost und Frau Holle nach wie vor ganze Arbeit leisten.

Alberta ist nicht nur bei Skifahrern weltbekannt für luftig-leichten Champagner-Powder. Die westkanadische Provinz bietet auch optimales Terrain für Abenteuer abseits der Piste. Ob man nun vereiste Canyons entdeckt, Nordlichter jagt oder mit Schneeschuhen durch verschneite Wälder stapft – es ist leicht, mit dem Winter in Alberta warm zu werden. Und haben wir schon die vielen Sonnenstunden erwähnt? Mehr gibt es in keiner anderen kanadischen Provinz.

Eine sternenklare Nacht vorausgesetzt, hat man im Winter gute Chancen, die wahrhaft magische Aurora borealis zu bestaunen.

Apropos Winter: Wenn du noch nie einen echten Winter erlebt hast, sondern nur den feuchten, subtropischen Februar aus deiner Heimat kennst, dann stellst du dir diese Jahreszeit in Alberta vermutlich kalt, glatt und dunkel vor. Das trifft zwar alles zu – der kanadische Winter hat aber auch eine verspielte, bildschöne, gemütliche, helle, glänzende und unterhaltsame Seite. Vor allem aber – und das mag alle überraschen, die das Grausen packt, sobald sich die Temperaturen dem Nullpunkt nähern – ist der Winter magisch. Wenn ihr zur rechten Zeit am rechten Ort seid, wird euch dieses Wort immer wieder in den Sinn kommen. Deshalb haben wir hier die magischen Winterimpressionen aus der ganzen Provinz für euch zusammengestellt. Vorab noch ein praktischer Hinweis: Denkt an die passende Kleidung. Kalte Zehen und rote Ohren lenken vom Zauber des Augenblicks ab. 

Ein Hotel wie kein Zweites

Zum Ankommen und zur Einstimmung auf all die Winterfreuden empfiehlt sich ein Logis im weltberühmten und postkartengleichen Fairmont Chateau Lake Louise. Wohl ein jeder Weltenbummler kennt die Bilder von diesem eindrucksvollen Komplex an einem grünen See, umrahmt von senkrechten Bergwänden, die ihrerseits mit Hängegletschern gespickt sind. Im Winter ist dieser See natürlich nicht grün, sondern zugefroren und schneebedeckt. Und darauf findet jedes Jahr im Januar der Eisschnitzwettbewerb Ice Magic statt. Magischer geht kaum. Die dabei entstehenden Eisskulpturen sind sozusagen die Kirsche auf diesem ohnehin enorm leckeren Landschaftskuchen. Also weg vom Kamin, rein in eure Daunenjacke und raus aufs Eis – mitten hinein in eine weiße Märchenwelt. Während mehrere Schlittschuhläufer auf dem gefrorenen See ihre Runden ziehen, zaubern Eisschnitzer aus aller Welt sensationelle Kunstwerke. Nach einer Weile holt ihr euch zum Aufwärmen an der Eisbar eine heiße Schokolade mit einem Schuss Irish Cream. Gerade als ihr den ersten Schluck nehmt, zieht ein Pferdeschlitten an euch vorbei. In der knackig kalten Luft tönt das Läuten seiner Glocken noch lange nach. Wer jetzt nicht in seinem ganz persönlichen Winterwonderland angekommen ist, macht wohl besser nur noch in der Süd-Sahara Urlaub.

Sie sind Magie hoch zehn, aber nur schwer planbar. Dennoch verbringen viele Nordlandfans ihr halbes Reiseleben damit, ihnen nachzujagen: Polarlichter. Immer, wenn der im Internet abrufbare sogenannte KP-Index auf seiner Skala von null bis neun über die drei zuckt, sollte man Stativ, eine lichtstarke Kamera und alle verfügbaren Klamotten einpacken, um sich in freudiger Erwartung die Nacht um die Ohren zu schlagen. Erste Adresse, um selbst mal in den Genuss der Aurora borealis zu kommen, ist der Jasper National Park. Dieser zählt zu den größten und zugänglichsten Lichtschutzgebieten der Welt. Vor dem dunklen Himmel zeichnen sich die bunten Farben der Nordlichter ganz hervorragend ab. Beobachte, wie sich wirbelnde grüne Bänder mit knalligem Pink und Neongelb vermischen und vor dem funkelnden Sternenzelt über den Himmel tanzen. 

Bei fünf Einwohnern pro Quadratkilometer fragt man sich oft: Hallo, ist da jemand?

Nahezu garantieren können wir euch dagegen ein kleine Berühmtheit: den Abraham Lake mit seinen eingefrorenen Methanblasen. Jahrzehntelang war der Abraham Lake ein streng gehütetes Geheimnis. Dann aber kamen mehrere virale Instagram-Posts, unter anderem vom Fotografen Paul Zizka aus Banff. Kurz darauf folgten begeisterte Beiträge von National Geographic, der New York Times und der Zeitschrift Smithsonian. Inzwischen reisen Besucher aus so fernen Ländern wie Japan und Australien an, um auf dem gefrorenen Abraham Lake zu stehen, die Unterwassersinfonie aus Eis mit eigenen Augen zu sehen – und natürlich ein Selfie mit den Blasen zu machen. 

Und Action

Für sich betrachtet sind die Blasen weder einzigartig noch besonders spektakulär. Tatsächlich stellen die Millionen winziger Methanblasen im Eis des Abraham Lake einfach ein natürliches Nebenprodukt des Zersetzungsprozesses organischer Stoffe dar, der auf dem Boden aller Seen abläuft. Es gibt sie hier, seit der See Anfang der 1970er-Jahre beim Bau des nahen Bighorn Dam angelegt wurde.

So, jetzt aber genug geschaut, Zeit für ein bisschen Bewegung. Bei Erkunden der zu Eis erstarrten Schluchten etwa. Stellt euch das nur mal vor. Ihr lauft auf einem gefrorenen Fluss. Eiskrallen sorgen dafür, dass ihr nicht auf dem Hintern landet. Um euch herum wirbeln Schneeflocken. Alles, was ihr hören könnt, ist das gedämpfte Lachen eurer Freunde. Ihr bleibt kurz stehen, um mit offenem Mund einen Wasserfall zu bestaunen, der scheinbar im Herabstürzen zu Eis erstarrt ist und in unzähligen Blautönen leuchtet. Dann biegt ihr um eine Kurve und erblickt direkt über euch eine Gruppe von Eiskletterern, die sich wagemutig mit Eispickel und Steigeisen an einer Wand aus gefrorenem Wasser emporhangeln. 

Und keine Angst vor  Bären. Die machen Winter­ruhe und verteidigen höchstens ihre Höhle gegen Eindringlinge. 

Die Touristenattraktionen Johnston-, Grotto- und Maligne-Canyon sind schon im Sommer eine Wucht, doch im Winter kommt die erwähnte Prise Magie hinzu. Statt auf dem schmalen Wanderweg lauft ihr wie Jesus eben übers Wasser – okay, kleine Einschränkung, es ist natürlich zentimeterdick gefroren. Und wie so oft liegt hier der Unterschied zwischen absolutem Fiasko und Spaß deines Lebens im Detail. Erst mit schneekettenartigen Spikes am Schuh wandelt ihr lässig wie Spiderman durch die Canyons, anstatt euch permanent das Steißbein zu prellen – oder Schlimmerem.

Bretter, die die Welt bedeuten

Wem das Durchstreifen der Canyons nicht genug Sport ist, der geht Schneeschuh laufen. Diese Art der Fortbewegung ist vielleicht die unmittelbarste, den Winter Albertas kennen und lieben zu lernen. Auf diesen SUVs der Indianer kann man ohne große Vorkenntnisse lange Wanderungen in flachem bis leicht hügeligem Gelände machen, das all jenen, die auf kleinem Fuß leben, verborgen bleibt. Schon nach wenigen Metern im knietiefen wie spurlosen Pulverschnee wäre die Tour zu Ende, da Kondition und Motivation schnell getrennte Wege gehen. Viel zu anstrengend. Auf Bigfoots dagegen verteilt sich das Körpergewicht auf eine größere Fläche, so dass man mühelos über den Schnee schwebt. Okay, fast mühelos. 

Die Steigerung von Schneeschuh ist übrigens Hundeschlitten. Damit taucht man eine Spur authentischer und noch deutlich tiefer in die reduzierte, aber dadurch nicht weniger imposante Winterlandschaft ein. Zahlreiche Tourveranstalter bieten Ausflüge mit leistungsstarken Huskys an, doch seid versichert: Spätestens an der ersten Anhöhe wird der Hundeschlittenpassagier zum ersten Leithund, der tüchtig mitschiebt.

Also gut, also gut. Wenn ihr schon in Alberta und umgeben von zahlreichen Skigebieten seid, dann wollt ihr bitte auch über ebenmäßig planierte Pisten flitzen und den ein oder anderen Abstecher in den Tiefschnee daneben einlegen. Ganz Wagemutige können sogar die berüchtigten Double-Diamond-Runs unter die Kanten nehmen. Diese fangen dort an, wo bei uns die schwarzen Pisten aufhören. Mit dem alpinen Skizirkus hat der Wintersport in Kanada allerdings wenig gemein. Es fehlen der Gigantismus hiesiger Touristiker und die vielen anderen Skifahrer in der Liftschlange vor einem. Stattdessen Hunderte Kilometer Naturschnee und perfekt angelegte Pisten, deren Routenführung nicht der Grenze zur Nachbargemeinde mit eigenem Skigebiet geschuldet ist. Und wer nicht gerade mit 134 Stundenkilometern zu Tal donnert wie einst Lindsey Vonn beim alljährlichen Skiweltcup in Lake Louise, der hat hoffentlich auch die Muße, sich an der umgebenden Bergwelt zu ergötzen. In Alberta geht es beim Skifahren wirklich noch um das Skifahren selbst. Magisch, oder?

Text: Michael Neumann