Auf der anderen Seite

Im Klischee ist die Schweiz immer ein bisschen nostalgisch, verträumt und gemütlich. Sie kann aber auch ganz anders sein: haarsträubend nervenkitzelnd, rasant und herausfordernd.

Vier heiße Reise-Ideen, die bei allen vibrierenden Hochgefühlen immer noch mit nostalgischen, verträumten und gemütlichen Augenblicken aufwarten. Typisch schweizerisch eben.


#1 Down the hill from the top

Davos Klosters ist ein Eldorado für Biker. An technischem Geschick, Kondition und Nervenkostüm wird jedoch einiges abverlangt. Dafür sorgen die Abfahrten für Hochgefühle und selbstredend auch die Ausblicke. 

Text Markus Haken

Ich muss hellwach sein. Nur ein Metallrahmen und zwei Räder unter mir. Fast umgebremst den abschüssigen Trail hinab. Steiler Fels. Haarnadelkurven. Die kleinste Unaufmerksamkeit und ich küssen den Boden.

Doch ich bin hellwach. So hellwach wie nur irgendwie. Der eiskalte Fahrtwind fegt mir jeden unnötigen Gedanken aus dem Hirn. Der Blick wird glasklar: Ich sehe, was ich sonst nicht sehe. Und gleichzeitig bin ich ganz bei mir. Die Welt, die Berge und ich verschmelzen. Ein echtes Flow-Erlebnis.

Doch erstaunlicherweise hört der Flow auch dann nicht auf, als ich hier unterm Weißfluhjoch stehen bleibe. Um mich herum erheben sich die gewaltigen Bergriesen. Ein unglaubliches Panorama. Vor allem die mächtige Felspyramide des Tinzenhorns hat es mir angetan. Wegen seiner Form wird es auch Matterhorn Graubündens genannt. Gegenüber, auf dem Scaletta-Pass, kurbeln sich die Alpenüberquerer ihre Höhenmeter hinauf. Auf der anderen Seite im Tal entdecke ich Klosters, winzig wie eine Zwergenstadt.

Graubünden.ch, Davos Klosters


Eines der härtesten Mountainbike-Rennen Europas fand dort statt, das legendäre Swiss Bike Masters. Dort erkenne ich auch die Gotschna-Freeride-Piste, die ich gestern voller Stolz gemeistert habe. Eine sechs Kilometer lange Freeride-Strecke. Aufregende 600 Höhenmeter geht’s dort schwingend und springend bergab durch 200 Steilkurven. Keine Frage: Auch das ein Flow-Erlebnis erster Güte.

Der Blick wird glasklar: Ich sehe, was ich sonst nicht sehe. Und gleichzeitig bin ich ganz bei mir. Die Welt, die Berge und ich verschmelzen.

Ich hänge meinen Gedanken nach und verliere mich in dem Anblick. Doch ich darf mich nicht verführen lassen. Mein Hüttenwirt hat mich mit ernster Miene gewarnt: nicht zu lange Pausen einlegen! Sonst fährt mir die letzte Bahn davon. Bergbahn wohlgemerkt. Ich habe mir heute nämlich die so-genannte Bahnentour vorgenommen. Fürs ungetrübte Freeride-Feeling greift einem die Technik unter die Arme: An einem Tag geht’s kräfte-schonend fünf Bergbahnen hinauf – und ganze 10000 Höhenmeter mit dem Bike wieder hinab. Feinste Strecken, über 90 Prozent davon Singletrails! Eine unwiderstehliche Herausforderung.

Doch auch die Brotzeit in der nächsten Sennwirtschaft ist unwiderstehlich. Schließlich muss ich für mein leibliches Wohl sorgen. Und ja, ich muss keine Rekorde brechen. Zum Glück kann man die Bahnentour auch auf zwei Tage verteilen. Und so liege ich eine Stunde später am Ufer des Davosersees. Ist irgendwie auch flowig. Und man muss nicht hellwach sein. Ich nicke ganz entspannt ein.

1300 km Biketrails ziehen sich durch die atemberaubende Bergwelt rund um Davos, die höchste Stadt Europas. Vom nervenzerfetzenden Thrill bis zum entspannten Genuss reicht das Spektrum der Radtouren. Bergbahnen und öffentlicher Verkehr befördern Bike und Fahrer – für Übernachtungs-gäste von Davos und Klosters gratis. Zudem bietet das Gästeprogramm »Davos Klosters Active« über 700 kostenlose Erlebnisse wie z. B. Tierbeobachtungen oder Stand- Up-Paddling. Infos: www.bike-davos.ch


#2 Wandern on the rocks

Unterhalb des Piz Bernina schlängeln sich zwei mächtige Gletscher ins Tal. Bei einer Wanderung kommt man ihnen wohlig fröstelnd nah.

Text & Fotos Thomas Jutzler

Ein babyblauer Mercedes Benz Oldtimer Cabrio cruist auf der Via da Bernina von St. Moritz in Richtung Diavolezza-Talstation. Gleißende Sonne. Glänzende Berggipfel. Thelma und Louise auf Grand Tour im Auto vor mir. Postkartenmotiv. Herrliches Klischeebild der Schweiz. So wünschen wir uns das. Wäre da nicht das Vorhaben, mit der letzten Gondel aufs Berghaus Diavolezza zu schweben. Das wird knapp. Thelma scheint Gedanken lesen zu können und drückt ganz unvermittelt auf die Tube.

Mit der letzten Gondel geht es gerade noch hinauf. Mit jedem Höhenmeter wird der Puls langsamer. Alles wird klarer, ruhiger, weiter. Die Vorfreude auf das Fünf-Gänge-Menü mit anschließendem Vollmond-Umtrunk auf der Diavolezza-Besucherterrasse ist riesig. Das große Schauspiel folgt nach dem Essen: Ein voller, weiß strahlender Mond steigt hinter dem Gipfel des Piz Palü in eine sternenklare Nacht und lässt den sich ins Tal windenden Bernina-Gletscher silbrig glänzen.

Der nächste Morgen, bestes Spätsommer-Wanderwetter. Bergführer Marco verteilt Steigeisen für die Wanderung über den Gletscher: »Jeder halbwegs fitte Wanderer kann die Tour gehen, aber Eisen braucht man auf dem glatten Eis des Gletschers schon.« Und unbedingt einen ortskundigen Bergführer. Die Gefahr, einen falschen Tritt zu machen und in eine von dünnem Schnee bedeckte Gletscherspalte zu fallen, wäre einfach zu groß. Blickt man ins Tal, sind die Spuren der Kräfte zu sehen, die hier seit Jahrtausenden am Werk sind. Wie mit dem Lineal gezogen zeichnet sich die obere Kante der Hunderte Meter hohen Seitenmoränen an den Bergflanken zu beiden Seiten des Gletschers ab.

Ich fühle mich wie auf dem zerschrundenen Rücken eines uralten archaischen Lebewesens.

Wir steigen über diese steilen Geröllfelder hinab zum Eis. Je näher man dem Gletscher kommt, umso größer scheint er zu werden. Was von Weitem wie ein kleiner Kratzer im Eis aussieht, entpuppt sich von Nahem als meterlanger Riss. Marco allerdings weiß genau, wo wir gehen können. So sorglos lässt diese riesige Eismasse einen beinahe ehrfürchtig werden. Ich fühle mich wie auf dem zerschrundenen Rücken eines uralten archai- schen Lebewesens aus einer anderen Zeit.

Auf einmal hören wir ein Rauschen. Nur wenige Schritte und wir stehen vor einem Eiskrater mit einem Loch in seiner Mitte, das einen Blick ins Gletscherinnere gewährt: Ein Wasserfall stürzt sich ins bodenlose Schwarz. »Hier geht es mehrere Hundert Meter in die Tiefe«, betont Marco. Offene Münder ob so viel Naturwunder.

Später sitzt man in Morteratsch bei einer Limo in der Sonne und wartet – mit Blick auf Piz Bernina und Gletscher – auf den Glacier Express. Die Fahrt mit dem berühmten Zug zurück zur Talstation sorgt für ein letztes Hochgefühl im Bauch. Immer mit Blick auf die mächtigen Gipfel im Abendlicht.

In und um St. Moritz erschließen komfortable Bergbahnen drei große Gipfel: den Piz Nair, den Corvatsch und die Diavolezza. Von der Bergstation der Diavolezza aus können Touren aller Schwierigkeitsgrade gegangen werden. Sowohl echte Profikletterer als auch Anfänger und Wanderer finden hier perfekteshochalpines Terrain vor. Wer einfach nur schauen will, genießt die Aussicht auf der Besucherterrasse und krönt den Besuch mit einem Dinner im Restaurant des Berghauses. Geführte Gletscherwanderung buchen: www.bergsteiger-pontresina.ch.
Allgemeine Infos unter: www.stmoritz.ch


#3 Rhein ins Vergnügen

Die Via Spluga ist ein Weitwanderweg, der über äußerst schöne und kulturhistorisch einmalige Pfade führt. Wer unterwegs noch Nervenkitzel sucht, tauscht Wanderkluft gegen Neoprenanzug und springt hinein ins frische Wasser des jungen Rhein.

Text & Fotos Thomas Jutzler

Bouuuum. Platsch. Das Wasser spritzt zu allen Seiten. Simon demonstriert gerade, wie wir am besten per Arschbombe den nächsten Wasserfall überspringen sollen, während der zweite Guide, Ed, nur grunzendes »cool, cool, cool« von sich gibt. Wir sind mitten in der Viamala-Schlucht. Behelmt und in wärmende Neoprenanzüge gepackt, schwimmen, krabbeln, springen und arschbomben wir uns durchs Whitewater des hier noch ganz jungen Rheins. Der Fun-Faktor beim Canyoning liegt auf einer Skala von eins bis zehn auf jeden Fall bei zwölf.

Zu beiden Seiten 300 Meter nackter Fels. Lichtschwerter, die in die Schlucht schneiden. In deren hellen Kegeln tanzen Tausende Insekten.


Und durch die Viamala wartet hinter jeder Biegung eine neue Überraschung: Mal watet man durch nur knietiefes Wasser, ein anderes Mal durchschwimmt man einen tiefblauen See oder lässt sich sanfte Stromschnellen hinuntertreiben. Dann lässt man sich auf dem Rücken liegend von seiner Schwimmweste tragen. Schwebt im eisblauen Wasser und blickt nach oben. Zu beiden Seiten 300 Meter nackter Fels. Lichtschwerter, die in die Schlucht schneiden. In deren hellen Kegeln tanzen Tausende Insekten. Wie kleine glitzernde Diamanten funkeln sie im Licht. Nach dem Adrenalin-High stellt sich jetzt ein Gefühl der Erhabenheit ein. Den Lärm der Welt vergessend, wundert man sich nur noch über die unglaubliche Schönheit der Natur.

Wie schon so oft in den letzten vier Tagen: Wir haben die Tour umgedreht und starteten auf italienischer Seite, in Chiavenna. Nach einem Cappuccino unter Palmen machten wir uns auf den Weg durch Kastanienwälder und das Val Cardinello in die Höhe. Über einen Saumweg erreichten wir den Pass. Zahllose Gebirgsbäche plätschern auf dem Plateau. Bilden kleine Seen, bevor sie sich entscheiden müssen, auf italienischer oder schweizerischer Seite zu Tal zu fließen. Wir nannten sie liebevoll Rheinbabys und folgten ihnen Richtung Tal. Splügen und Andeer empfingen uns mit ihren mittel- alterlich anmutenden, trutzigen Häusern. Wir überquerten luftige Hängebrücken, durchwanderten die enge Rofflaschlucht und lichtdurchflutete Wälder.

»Hey, don’t dream … sonst wird’s gleich un- gemütlich«, Ed reißt mich aus den Gedanken. Der nächste Hechtsprung ins weiter unten liegende Bassin wartet schon.

Der Weitwanderweg Via Spluga ist ein kulturhistorischer Weg, der die Geschichte des Gebiets rund um den Splügenpass erschließt. Seit dem Mittelalter ist dieser Pass als Route von Thusis nach Chiavenna ausgebaut. Die 68 Kilometer sind in vier Etappen aufgeteilt. Höchste Erhebung ist der Sattel des Splügenpasses mit 2115 Metern. Besonders eindrucksvoll: der Abschnitt der Viamala – rätoromanisch für »schlechter Weg« – mit der gleichnamigen Schlucht.
Infos zur Wanderung: www.viaspluga.ch, www.graubuenden.ch
Die Canyoning-Tour buchen: www.swissriveradventures.ch


#4 Alles im Fluss

Klein und tosend bahnt sich der junge Rhein seinen Weg durch die Bergwelt der Schweizer Hochalpen, bis er in Basel zum großen, ruhigen Strom geworden ist: Touren-Radler erleben auf der Rhein-Route einen Fluss hautnah beim Erwachsenwerden.

Text Markus Maier

Eine Geburt ist jedes Mal ein Wunder. Staunen werde ich Zeuge bei der Entstehung eines jungen, wilden Gebirgsbachs: mein Begleiter für die nächsten zehn Tage. Der Beginn einer wunderbaren Kurzbeziehung. Der Fluss wird auf unserer Reise wachsen. Hier weiß er noch nichts von seiner gebieterischen Größe und Bedeutung. Er kennt nicht die Lieder, die ihn besingen. Er ist ganz unverdorben und unverbaut. Ich folge dem Rhein von seinem Ursprung bis nach Basel.

Am Gotthardmassiv sprudelt der Rhein oder besser Vorderrhein, wie er hier noch heißt, aus dem Tomasee. Quicklebendig stürzt er sich hinein ins Tal der Surselva – und ich mit ihm. Eine rasante Tour. Bis wir seinem Bruder, dem Hinterrhein, in Chur begegnen, erleben wir einen Ritt voller Naturwunder: Schon bald gräbt sich der Rhein in seiner jugendlichen Unerschrockenheit tief in eine gewaltige Schlucht. Einst hat sich ihm hier einer der größten Felsstürze der Erdgeschichte entgegengestellt. Doch der Bursche hat sich durchgebissen. Der Lohn: Eine atemberaubende Landschaft ist entstanden, die Ruinaulta, der Grand Canyon der Schweiz. Die Wassermassen tosen stolz zwischen schroffen Felskanten unter tollkühnen Brücken hindurch, über die ich mit meinem Rad jage.

Schon bald gräbt sich der Rhein in seiner jugendlichen Unerschrockenheit tief in eine gewaltige Schlucht.

In Chur dann das brüderliche Korrektiv: Der hitzige Jungspund verwandelt sich in ein sanftes Gewässer. Der Weg wird entspannter. Der Fluss und ich gleiten an weiß leuchtenden Kiesbänken entlang. Viel Zeit, die Füße ins eiskalte Wasser zu halten.

Die Berge weichen immer weiter zurück, die Täler werden flacher. Schließlich breitet sich auch der Rhein in alle Richtungen aus: Er ergießt sich in den Bodensee. Im beinahe mediterranen Klima erwachen erste Frühlingsgefühle. Die Natur sprießt, eine Romanze bahnt sich an: Sanft umstreicht das Wasser Mainau, die üppige Blumeninsel. Für mich nur ein kurzer Abstecher von Konstanz aus.

In Konstanz selbst erzählen alte Monumente von einer traditionsreichen Geschichte. Dann wird der Rhein noch mal so richtig aufmüpfig und rebellisch. Über eine 150 Meter breite Kaskade stürzt er sich bei Schaffhausen in die Tiefe. Spektakulärer kann man seine Jugendzeit nicht beenden. Mit meinem Rad begleite ich den Rhein noch ein paar Kilometer durch ausgedehnte Nadelwälder und mittelalterliche Dörfer. Doch in Basel heißt es Abschied nehmen. Der Rhein ist zu einem ausgewachsenen Strom geworden. Mir scheint, auch ich bin mit ihm gewachsen.

Die Rhein-Route ist der Schweizer Teil des Radfernweges Euro-Velo-Route 15, der dem Rhein von der Quelle bis zur Mündung folgt. Startpunkt ist Andermatt, das Ziel – nach 430 Kilometern und zehn Tagen – ist Basel. Vor allem der erste Abschnitt bis Chur hat es sportlich in sich: Von Andermatt geht es gleich 600 Höhenmeter bergauf zum Oberalppass. Diese Hürde lässt sich aber bequem per »Veloverlad« der Rhätischen Bahn überwinden. Auch an der Ruinaulta lassen sich so 250 Höhenmeter einsparen.
Weitere Infos: www.veloland.ch


Text: Globetrotter Magazin