Mit Rad und Gleitschirm über die Alpen

Italiens blauer Himmel. Fahrrad. Gleitschirm. Zelt. Gute Kumpels. Kein GPS, kein Smartphone. Das war die Ansage für Felix Wölks Traumtrip: 3000 Kilometer vom Allgäu nach Sizilien, mit Flugeinlagen an Vesuv, Stromboli und Ätna.

Felix Wölk

Wir treten unsere Lastesel über das Oberjoch in Richtung Alpensüdseite. Mein Einrad-Anhänger ist gewöhnungsbedürftig. Die Hecklast sorgt bergab für beachtliche Unwuchten und zerrt am Hinterbau meines Crossrennrads. Tobis schwer beladener Trekking-Gaul klappert schon am ersten Tag wie ein Alteisencontainer. Ob das wohl gut geht?

Die Bergstraßen der Alpen entpuppen sich gleich zu Beginn als sportlicher Keulenschlag. Ein Härtetest für Mensch und Material. Nach zwei Biwaknächten in Tirols kalten Taltiefen erreichen wir den Reschenpass quasi auf dem Zahnfleisch. Italien, das gelobte Land, in dem es bergab geht, muss warten. Unsere Schadensaufnahme: ein demoliertes Schutzblech, das der Reifen fraß, ein verbogenes Schaltwerk, eine gelöste Gepäckträgerstrebe aufgrund eines Schraubenbruchs, ein lockerer Vorbau und zwei schleifende Bremsen. Egal, das sind Peanuts. Im Süden lacht der Ortler mit seinen Gletschern und das Schrauben ist hier, am plätschernden Seeufer des Reschensees, geradezu meditativ.

Im trentinischen Etschtal, durch das ein verkehrsfreier Radweg dem Fluss folgt, gewöhnen sich unsere Beine langsam an das Pedalieren mit Last. Von Raureif bedeckte Weinreben geben einen Vorgeschmack auf den Süden. Lagrein Dunkel und Gewürztraminer sind die Trümpfe der hiesigen Winzer. Der leichte Edelvernatsch wärmt die Muskeln und schmiert die Gelenke. Es wird bald richtig italienisch: Die Alpen öffnen sich, und die Sonne der Lombardei lässt zum ersten Mal Vogelgesang erklingen. Herrlich erfüllt die Stadt Mantua die Klischees der »guten alten Welt«: la storia, la cultura! An der Piazza Sordello fühlt sich prompt ein Herr namens Rossini für unser Wohlbefinden verantwortlich. Per Rad nimmt er uns auf eine Stadtrundfahrt in sein Schlepptau.

Ein demoliertes Schutzblech, ein verbogenes Schaltwerk, ein lockerer Vorbau und zwei schleifende Bremsen. Egal.

Er fährt einhändig, rudert mit dem Arm wie ein Schutzmann, damit sich der Verkehr ja fernhalte: »Aspetta!«, ruft er, oder: »Attenzione!« Auch ein dezenteres »Permesso?« kommt im Centro Storico aus seinem Mund. Ganz Mantua scheint Rossini zu kennen. Bei seinen Freunden Giovanni und Dina bittet er schließlich um ein preiswertes Zimmer für die müden Radfahrer. Dina, eine gebürtige mantuanische Signora, gibt uns historische Einblicke in die Bedeutung des Palazzo Ducale, des »Herzogspalasts«, durch dessen Arkaden wir noch eben rollten.

Auch alle Nebenwege führen nach Rom

Die Emilia zeigt sich trist. Die Poebene liegt schon im nebeligen Winterschlaf. Wir fahren viele Stunden in der Dunkelheit, um wieder sonnige Hochlagen zu erreichen. Richtung Zocca, hoch im Apennin, führt uns dieser Tagesrhythmus auf einem Karrenweg in die eisige Bergnacht. Eine Föhnmauer aus Wolken staut sich im Südwesten des Gebirges und schimmert im Mondlicht. Wir finden im dichten, nächtlichen Urwald keinen Zeltplatz. Als wir auf eine Straße treffen, legen wir uns zur Nachtruhe auf den Asphalt. Unsere Körper kommen nach den Anstrengungen der schweren Bergetappe nicht zur Ruhe. Das Kreislaufsystem arbeitet unermüdlich und lässt den Puls auch nachts nicht sinken. Ein Uhu bemüht sich zwar tapfer, uns in den Schlaf zu wiegen, doch mehr als ein paar Stunden unruhige Döserei sind nicht drin. Als wir zur kältesten Stunde aus den Schlafsäcken kriechen, helfen dann nur Liegestütze.

Rom. 300 Kilometer durch die malerische Toskana liegen hinter uns, als wir mit Rückenwind den Dunstkreis der italienischen Hauptstadt erreichen. In diesem drei Millionen Menschen umfassenden Freilichtmuseum beweist sich das Rad als urbanes Fortbewegungsmittel Nummer eins. Gewaltige Überbleibsel eines einstigen Weltreichs türmen sich auf und ziehen an uns vorbei. Dazwischen quirlt das Leben der jungen Römer, die sich nachts in Szenebars tummeln, schwarz und elegant gekleidet. Lebenslust statt Regelfrust! Hier zählt die Empfehlung unter Freunden, eine Hand wäscht die andere. Doch das Latium kann einem Reisenden auch anders begegnen. Böse Zungen behaupten, es hätte den Tourismus schlichtweg satt.

Wir erreichen die Küste des Tyrrhenischen Meers pünktlich zu einem blutroten Sonnenuntergang. In einer Bar am Straßenrand schwärmt ein zurückgekehrter Gastarbeiter von seiner Heimatstadt. Er ist Maurer und spricht nahezu akzentfrei hochdeutsch: »Napoli ist schön«, schwelgt er wehmütig, »aber passen Sie auf!«. Er hält kurz inne, und als ob er eben seiner Liebe Unrecht tat, dementiert er: »Ach nein, vergessen Sie das, Napoli ist schön!«

Mare e Monte, auch auf dem Teller

Neapel liegt am Fuß des Vesuv – unser erstes vulkanisches Flugziel. Das Kopfsteinpflaster unter den Laufrädern ist wie eine Prügelstrafe. Aber Neapel hat Flair. Es wirkt verrucht, undevot und geheimnisvoll. Weiße Laken flattern in der Seebrise in den engen Gassen, und der Verkehr schlängelt sich flott durch das Straßennetz. Es wirkt ehrlicher als Rom, fassadenloser. Am Hafen treffen wir Jochen, der per Schiff und Fahrrad angereist ist, um uns zu begleiten.

»Napoli ist schön … «, schwelgt der Mann in der Bar, » … aber passen Sie auf!« Er hält kurz inne, als täte er seiner Liebe Unrecht. »Vergessen Sie das! Napoli ist schön!«

Eine zweistündige Wanderung führt uns auf den Vesuv. Wir biwakieren am Kraterrand, um den schwachen Wind frühmorgens für einen Flug zu nutzen. Pompeji leuchtet bei Nacht. Neapel leuchtet. Tief unten ruhen Millionen von Menschen. Wie das Schwert des Damokles schlummert neben ihnen der Vesuv. Der Vulkan, der eine geologische Zeitbombe darstellt und unter genauesten seismologischen Beobachtungen steht. Es ist eine gruselige Nacht auf diesem Pulverfass. Frühmorgens verjagt der aufgehende Sonnenball alle Zweifel. Bei Kaiserwetter, das Adriano Celentano zu einem Welthit gemacht hätte, füllen sich unsere Gleitschirme mit Luft. Wir heben ab und gleiten über das Paradies auf Erden, das uns tief unten anlacht wie eine Pizza Napoli: der vulkanische Sand rot wie eine Pas- sata di Pomodoro, und der Wald grün wie frisches Basilikum! Die irdische Belohnung wartet: die Küstenstraße von Amalfi – ein Muss für jeden Radfreund.

Felix Wölk

Im südlichen Kampanien durchqueren wir den Cilento, der ein besonderer Landstrich Italiens ist. Ein wildes Gebirge ragt hier direkt aus dem Meer. Die Bäume der Olivenhaine gleichen urzeitlichen Riesen. Peng!! Peng!! Neben uns knallt es zweimal aus einer Flinte. Dann purzelt ein wohlgenährtes Wildschwein ins Tal. Unsere Mägen knurren. Wir kehren bei Fiorenzo ein, der bei Pisciotta an der Küste das »Ristorante Belvedere« betreibt. Die Art der Küche: Mare e Monte – aus dem Meer und den Bergen, bodenständig bäuerlich. Der Familienbetrieb bewirtet uns vorzüglich: Pane cotta, altes gebratenes Weißbrot, wird vorweg als Gruß aus der Küche serviert (aus der Pfanne mit Öl, Knoblauch, Petersilie, einem Schuss Wasser, Salz, Pfeffer). Die Antipasti: Wurst und Schinken vom Wildschwein, danach ein Risotto nero (mit Tintenfisch) als erster Gang. Eine Platte fangfrischer Fische vom Grill dient uns danach als köstliche Eiweißzufuhr. Nach diesem gastronomischen Volltreffer in puncto Qualität und Herzlichkeit können wir uns keinen Meter mehr fortbewegen. Mit Anzeichen einer Magenerweiterung nächtigen wir kurz entschlossen auf Fiorenzos Dachterrasse. Am nächsten Morgen verabschiedet uns die ganze Familie. Er sei »sempre qui«, immer da, sagt Fiorenzo, und verdrückt sich dabei eine Träne. Als unsere Drahtesel zu rollen beginnen, plagt mich eine Art Abschiedsschmerz.

Ein Herr namens Rossini nimmt uns mit auf Stadtrundfahrt. Er radelt einhändig, rudert mit dem Arm: Attenzione!

Nun machen wir Strecke. Nach drei Wochen Fahrt hat sich der Körper auf die Belastung eingestellt. Im Windschatten des Dreier-Teams fliegen die Kilometer dahin. Ein Juwel für Radreisende ist die Strecke bei Sapri, wo die Klippen des Nationalparks von Pollino aus glasklarem Wasser ragen. Eines Tages schaffen wir 170 Kilometer auf der verkehrsarmen Küstenstraße und erreichen Tropea. Nach dieser Etappe sind wir ausgelaugt. Jeder fährt eine Zeit lang sein eigenes Tempo. Kraft und Motivation zu finden ist nun für uns alle Kopfsache. Ich genieße die Teilstrecken des Alleinseins. Die Monotonie des stillen Tritts beflügelt meine Gedanken und lässt Raum zum Träumen. Im Süden Kalabriens wird es ärmlicher. Prunk und Protz sind nun gänzlich passé. Oft treffen wir Afrikaner, viele sind aus Gambia und dem Senegal. Die Geisterstadt San Ferdinando erinnert in ihrer Art und Bauweise an ein südamerikanisches Favela-Viertel. Am südlichen Ende des Festlands führt der Weg zu unserem zweiten vulkanischen Ziel, dem Stromboli, über eine Fähre nach Sizilien. In einer kleinen Etappe erreichen wir Milazzo. Von dort nehmen wir ein Boot auf die Liparischen Inseln.

Die Insel Stromboli ist recht überschaubar. Sie besteht einzig aus dem Vulkankegel und der gleichnamigen Ortschaft am Fuß des Berges. Die Insel ist komplett autofrei. Im Winter ist es hier sehr verlassen, denn Stromboli lebt vom Sommertourismus. Einer der Fußsteige zum Krater führt über die Ostseite. Hier öffnet sich bald die gewaltige Nordflanke des Stromboli. Pechschwarz erstreckt sie sich auf knapp 1000 Meter Höhe von der Küste bis hin zum aktiven Schlund. Die Windstärke ist zum Gleitschirmfliegen grenzwertig. Dennoch klappt unser Start. Im Aufwind der Nordflanke lassen wir uns über den Kraterrand des giftspeienden Ungeheuers treiben. Die Szenerie aus der Luft ist kaum in Worte zu fassen. Der Qualm wirkt wie eine diabolische, windgepeitschte Masse, die wie eine stürzende Strömung unter uns reißend fließt. Darunter grollt und donnert ein unsichtbarer Schlund, der jederzeit launisch glühende Felsen spucken kann. Eine teuflische Kulisse … Nach einer Stunde Flug lassen wir uns über die Ortschaft Stromboli treiben. Wir landen am schwarzen Strand zum sanften Klang des Leewassers.

Felix Wölk

Verführung zum Mundraub

Zurück auf Sizilien satteln wir die Bicis Richtung Ätna. Ein Cappuccino bei Salvatore, dann beginnt die Bergetappe in die »Monti Pelo- ritani«. Stille Straßen winden sich in das Bergland Richtung Novara di Sicilia. Die Natur wird wilder, ursprünglicher, und das Leben blüht fröhlich auf. Ein biblisches Land! Gescheckte Schweine laufen durch das Buschwerk, Hähne krähen, und Hunde bellen, um frei laufende Schafe zu hüten. Ein verirrtes Zicklein springt mir vor das Rad und sucht verzweifelt seine Herde. Esel blöken und scheue Wildpferde beäugen uns. Orangenbaumplantagen sind im Landesinneren nicht einmal mehr von einem rostigen Draht umzäunt, der an der Küste noch den Mundraub erschwerte. Die Berghänge sind oft mit baumgroßen Kakteen zugewuchert, deren rote Früchte im Dezember reif zu Boden fallen.

Wir gehen den gewaltigen Kegel des Ätna von der Ostseite an. Die jüngsten explosionsartigen Ausbrüche des »Mongibello« haben Unmengen an frischer Lava und Asche zutage gebracht, die den ewigen Schnee des Vulkans komplett bedecken. Während des Aufstiegs entdecken wir tiefe Löcher, die glühender Steinschlag durch Schmelze verursachte. Im dampfenden Geröll wird es um die Füße mit jedem Höhenmeter immer heißer. Als wir den Krater erreichen und sehen, dass der Wind startbar ist, zögern wir nicht. Mit drei Schritten Richtung Südwesten heben wir auf 3323 Meter Höhe gleichzeitig ab. Aus der Vogelperspektive ist es eine fantastische Welt, die unter uns liegt – aus Feuer geschaffen und zu Stein erstarrt. Nach 45 Minuten landen wir fast 3000 Höhenmeter tiefer an der Küste des Ionischen Meeres.

Felix Wölk

Mit Ehren-Peloton ins Ziel

Am Ätna beginnt für Tobi und Jochen die Heimreise nach Deutschland. Mich zieht es weiter in die Ferne. Ohne meine Gefährten rolle ich etwas verloren nach Catania, die zweitgrößte Stadt Siziliens. Das Alleinsein ist ungewohnt. Eine Schulklasse am Straßenrand feuert mich an: »Sali! Vai!«, rufen die Kinder. Das motiviert. Ich trete meinen Roadtrain schweren Atems in die menschenleeren Berge des Inlands. Vier Tage später baue ich auf einer Anhöhe bei Alia zum letzten Mal mein Zelt auf. 

Sternschnuppen sausen über den Himmel. Ein Olivenbaum bietet mir Schutz vor Kälte und Tau. Auf dem leh- migen Boden neben mir steht eine Plastikflasche mit Vino Sfuso. Es scheint, als sei alles, was mich auf meiner Reise begleitet hat, auf seltsame Weise beseelt: die vergerbten Lederschuhe, die Strickmütze, das Messer. Allen Dingen ist Leben eingehaucht. Der eingeschlagene Lenker meines Fahrrads lässt es im Mondlicht aussehen, als raste es nach vollendetem Werk.

Felix Wölk

Aus der Vogelperspektive ist es eine fantastische Welt, die unter uns liegt – aus Feuer geschaffen und zu Stein erstarrt.

Der letzte Tag. Bei einer Fotopause in Termini hält ein sizilianischer Radsportler an und fragt, ob er mich auf meinen letzten Kilometern nach Palermo begleiten dürfe. Er heißt Alessandro, ist Astrophysiker, und freut sich mir Windschatten zu geben. Wir befahren den »Cobra Climb«, einen sizilianischen Rennradklassiker an der Küste. Bald befinde ich mich in einem ganzen Feld von Radsportlern. Alessandro erzählt allen meine Geschichte. »Bravo, complimenti!«, höre ich, oder »Che bello!«. Stolz gebrüstet fühle ich mich wie Marco Pantani, der von seinem Team zum Giro-d’Italia-Gesamtsieg gezogen wird. Als wir die Stadt erreichen, heißen mich allesamt offiziell willkommen: »Bienvenuti a Palermo!«

Alessandro lässt es sich nicht nehmen, meinen müden Beinen eine bunte Stadtrundfahrt zu verpassen. Er möchte abends außerdem zu einer Pistazien-Pasta einladen. Davor organisiert er mir eine Unterkunft. Sie liegt im Viertel »Ballarò«, einem kulturellen Schmelztiegel. Samstagnacht brennt hier die Luft. Bars, Pubs, Marktstände und Motorinos, Fischhändler, Olivenbauern, Wettbüros und Straßendealer, Livemusik und Afrobeat. Nichts, was es hier nicht gäbe. Es ist ein wunderbarer Kontrast nach 3000 Kilometern im Fahrradsattel. Und so ein Bett ist manchmal einfach himmlisch!

Felix Wölk