Bob Shepton: Der alte Mann und das Meer

WM
Kletterfanatiker und Kleriker, Weltumsegler und Expeditionsleiter – Reverend Captain Bob Sheptons größtes Abenteuer begann, als er sich zur Ruhe setzte. Einblicke in ein bewegtes Leben.

Als im Jahr 2016 die European Outdoor Film Tour durch die internationalen Kinosäle zieht, bekommt der Segel-Klassiker »What shall we do with the drunken sailor« ernsthafte Konkurrenz. Plötzlich singt, pfeift und summt die Outdoorwelt »It’s a Dodo’s Delight«, einen neuen Ohrwurm der Meere, der von den Abenteuern der Crew des titelgebenden Segelschiffs erzählt. Er ist der Soundtrack zu dem Film »The Adventures Of The Dodo«, der zum Überraschungshit der Tour wird. Noch heute stimmen Leute mit ein, wenn man zum Refrain ansetzt, ein Grinsen breitet sich über die Gesichter aus und es falle­­n Sätze wie: »Der Film war grandios – und Captain Bob war der Beste.«

Der Film ist so packend, weil er mit einer besonderen Mischung aufwartet: Ein Kapitän, der auf die 80 zugeht, schipperte vier Top-Kletterer – Sean Villanueva O’Driscoll, Ben Ditto und die Gebrüder Nico und Olivier Favresse – an die Steilwände von Baffin Island. Doch die Athleten (Bob nennt sie seinen »Wild Bunch«) zelebrieren sich nicht als Heroen, sondern feiern das Leben an Bord der zehn Meter langen »Dodo’s Delight«. Die sportliche Leistung spielt lediglich eine Nebenrolle – und die heimliche Hauptrolle kommt Captain Bob zu. Oder besser: Reve­rend Captain Bob Shepton – heute 83 Jahre alt, voller Tatendrang und voller Geschichten.

Archiv Bob Shepton

Die Sache mit der Ruhe

Geboren 1935 in Malaysia, dem Krieg einmal in Asien und ein zweites Mal in Europa entkommen, spät berufener Kletterfanatiker und Kleriker, Sozialarbeiter und noch später berufener Skipper. Einer, der mit der Rente auf Weltumsegelung geht, der die weltbesten Kletterer an abgelegene Felsen im tiefsten Eis bringt und jetzt »das Leben ein wenig ruhiger angehen lässt«.

Hakt man nach, erfährt man, dass er schon durchaus noch »etwas reist«. Gleich geht es nach Innsbruck zur Kletterweltmeisterschaft, wo der Film mit dem Wild Bunch nochmals gezeigt wird. Danach steht das Filmfestival im kanadischen Banff an.

»Der Wild Bunch ist die beste Crew – die Jungs sind absolute Profis und die verrücktesten Typen.«

Aber Bob schreibt nicht nur Autogramme und schüttelt Hände. Im vergangenen Jahr segelte er einen Trupp nach Norwegen, wo er auch selbst mit auf Skitouren ging. Und dann fällt ihm auch noch ein, dass er einen der besten Allroundkletterer der Welt, den Schotten Dave MacLeod mit seiner »Dodo’s Delight« zu Erstbegehungen nach St. Kilda brachte, einer winzigen Inselgruppe im Nordatlantik, die mit legendär steilen Cliffs aufwartet. Steil war auch die Lernkurve, die der Kletterer durchmachen musste: »Dave war zuvor noch nie gesegelt und er litt furchtbar unter der Seekrankheit«, erzählt Bob mit seinem verschmitzten Lächeln. »Für ihn gab es nur zwei Positionen: vertikal am Fels, horizontal auf dem Boot.«

Aber so ein dreiwöchiger Ausflug ist nicht das, was Bob unter Abenteuer versteht. »Einfach so vor der Westküste Schottlands rumschippern erfüllt mich nicht wirklich. Es ist eigentlich schrecklich, aber ich kann nicht einfach zum Genuss segeln, das ist mir zu wenig. Ich suche immer die Herausforderung.« Herausforderung – kaum ein Wort entschlüpft Bobs Mund häufiger. Die Challenge ist es, die Bob sucht, nach der er süchtig ist. »Ich mache das nicht, weil mich die Natur reizt. Ich bin nicht auf einer Selbstsuche – da würde ich ja sicher erschrecken, wenn ich was finden würde«, schmunzelt er. »Ich nehme schon wahr, wie schön die Welt um mich ist, aber die Natur­gewalten, das Risiko und der unberechenbare Weg ans Ziel, das ist es, was mich fasziniert.« Bob geht gern an seine Grenzen – und das schon sein Leben lang.

Spielball des Kriegs

Es ist der Scharlach, der Bob das erste Mal das Leben rettet. Er kursiert unter den Kindern in seinem Geburtsland Malaysia und die Mutter macht sich Sorgen um den Fünfjährigen und seine große Schwester. Generell ist sie unglücklich über die Ausbildungschancen ihrer Kinder in der damaligen britischen Kronko­lonie und schickt sie deshalb 1940 alleine nach Australien, bevor sie einige Monate später nachkommt. Bobs Vater hingegen bleibt auf der Halbinsel, wo er eine Gummiplantage verwaltet. Im Dezember 1941 will er gerade die Arbeiter ausbezahlen, als die Japaner (kurz vor dem Angriff auf Pearl Harbor) überraschend von Norden einmarschieren und Bobs Vater ermorden.

»Während Menschen aus Europa flüchteten, wollte meine Mutter unbedingt wieder zurück nach Großbritannien«, und so führt die erste Schifffahrt den Siebenjährigen entgegen dem Flüchtlingsstrom einmal quer durch die Welt von Australien über den Panamakanal nach New York. Von dort bricht die kleine Familie in einem Schiffskonvoi über den Atlantik nach England auf – zwei der Boote sollen die Insel nicht erreichen, sie werden von U-Booten versenkt. Den Kindern ist die Gefahr, in der sie schweben, allerdings nicht bewusst: »Wir liefen auf dem Deck umher und imitierten den Alarm der Sirenen – das kam nicht wirklich gut an.« Auch in den restlichen Kriegsjahren ist das Leben der Sheptons südlich von London alles andere als sicher. Aber sie überleben.

Vom Kletterer zum Kleriker

Der Halbwaise Bob kommt in die Schule und liebt sie: Die Lehrer werden zum Vaterersatz und im Sport kann er sich austoben. So landet er nach dem Abschluss bei den Royal Marines – und erstmals am Fels. Bob wird zum »manischen Kletterer«, wie er sagt. Auf unergründlichen Wegen – »meine Noten waren es nicht und Geld hatten wir auch keines« – kommt er nach seinen Militärjahren zum Studium der Geschichte, Archäologie und Anthropologie nach Cambridge ans Jesus College. Wie passend, dass er hier mit Mitte 20 die Berufung findet: Aus Bob Shepton wird Reverend Bob Shepton, Kletterfanatiker und Geistlicher in einer Person.

Wenn er von den folgenden Jahrzehnten erzählt, dann springt Bob von einem Ort Großbritanniens zum nächsten. Von den harten, verarmten Docklands im Londoner Osten über Südengland und Wales bis nach Schottland arbeitet Bob als Sozialarbeiter und Schulpfarrer. Vielleicht verliert man den Überblick über die Orte, aber ein Thema prägt all seine Stationen: Reverend Shepton sucht die Herausforderung.

Beruflich reizt ihn die Arbeit mit Kindern aus schwierigen Verhältnissen, Kids, die aus einem problematischem Elternhaus stammen oder sich mit dem Lernen schwertun. Er nimmt sie mit hinaus in die Natur, lässt sie beim Sport ihren Frust ab- und gleichzeitig Selbstvertrauen aufbauen. »Am Samstag habe ich sie beim Klettern allegemacht und am Sonntag habe ich ihnen in der Kirche kräftig eingeschenkt«, lacht Bob. Es ist natürlich keine Frage, dass er an allen Schulen und Einrichtungen die beliebteste Bezugsperson ist – zumindest bei den Kindern.

In den 60er-Jahren erschließt er an der Südküste von England mit den Jugendlichen zig neue Routen, in den 70ern unternimmt er mit einem anderen Trupp Erstbegehungen am Great Orme in Wales. Wenn die Zeit und die Kraft reichen, gibt er am Fels die christliche Botschaft weiter, »aber meistens waren wir einfach zu konzentriert und danach zu erschöpft.« Den Schulleitern gefällt das nicht immer, doch der Erfolg gibt ihm recht.

Archiv Bob Shepton

Das Segeln spielt lange gar keine Rolle im Leben der Sheptons. Erst mit über vierzig kauft Bob mit seiner Frau Kate das erste Segelboot. Fünf Kinder hat das Paar inzwischen, darunter Peter und Anna, zwei US-vietnamesische Waisenkinder, die sie adoptiert haben. Gemeinsam schippert man auf Familienausflüge – die dann schon einmal von Schottland in Kates nordirische Heimat führen: »Wir hatten sehr rudimentäre Segelkenntnisse, das Boot war winzig, aber wir kamen an und hatten unseren Spaß.«

Seinen Einstieg in den Segelsport beschreibt er so: »I bought a boat, read a book and hit the sea.« Doch Kate leidet unter der Seekrankheit und die Kinder verabschieden sich langsam aus dem Elternhaus. Bob beginnt, das Segelboot mehr und mehr für seine Arbeit einzusetzen und segelt mit den Schulkindern erst auf die Kanal­inseln und nach Frankreich, dann auf die Azoren.

»Die Naturgewalten, das Risiko und der unberechenbare Weg ans Ziel treiben mich an.«

So richtig startet Bobs Expeditionskarriere dann mit der Verabschiedung in den Ruhestand. Ein Jahr nach Schulende tritt er mit ehemaligen Schülern eine Weltumsegelung an. Zwei von ihnen sollen die gesamten 21 Monate bei ihm bleiben, 15 weitere kommen vorübergehend für Monate dazu, der Flug für die wenig begüterten Jugendlichen wird von einer Charity-Organisation finanziert. »Es war unglaublich zu sehen, wie sie über die Zeit reiften. Wie sie arbeiteten, ohne zu murren, wie wir gemeinsam durch die Stürme kämpften, durch die Antarktis und wieder zurück.«

Schafskopf oder Rapper?

Natürlich kann der umtriebige Bob auch nach der Rückkehr nicht lange ankern. Kate ahnt schon, dass er wieder losziehen wird. Und so beginnt 1998 eine neue Karriere: Bob und seine »Dodo’s Delight« werden zu einem Segel- und Klettergespann. Bob springt von Geschichten auf den Färöern nach Costa Rica, von Hawaii in die kanadische Arktis – und immer wieder nach Grönland. Die Passage von Schottland nach Grönland gilt als »eine der fiesesten Routen durch den Atlantik«, erklärt Bob.

Wüsste meine Frau, was ich treibe, würde sie mich einen Schafskopf schimpfen.«

Aber er liebt schließlich die Herausforderung und die Arktis. 13-mal ist er die Passage inzwischen gesegelt, zweimal davon mit dem berüchtigten Wild Bunch. Bob erinnert sich an eine E-Mail, die ihn 2010 erreicht: »Da schreiben mir ein paar Kletterer ›Hey Bob, kennst du gute Big Walls in Grönland?‹ Ich antwortete: ›Ja, tue ich. Aber ich verrate sie euch sicher nicht. Da müsst ihr schon mit mir mitkommen.‹«

Und so brechen vier Kletterstars mit einem 75-jährigen Geistlichen ins grönländische Eis auf, um »neue Wände zu entdecken und dabei maximalen Spaß zu haben«. An Bord alles, was man so braucht: Seile, Schlingen, Schuhe. Karabiner, Helme, Expressen. Ziehharmonika, Flöte, Mandoline. Drei Monate, neun Erstbegehungen und viele Songs später kehren sie wohlbehalten zurück. Für Bob ist das bunte Team die beste Crew, die er sich wünschen kann. »Sie sind absolute Profis und die verrücktesten Typen, die du dir vorstellen kannst.«

Vier Jahre später ziehen sie erneut gemeinsam los, der Trip wird zu einer musikalischen Kletter- und Segelexpedition, bei der die Wände von Baffin Island und Grönland nicht nur auf ihre Klettertauglichkeit, sondern auch auf ihre akustischen Qualitäten überprüft werden. Und all das wird auf Film gebannt. Kurzerhand wird noch das Video zum frisch komponierten Segel-Shanty »Dodo’s Delight« gedreht, Bob zu einem Rap-Part überredet – und der Rest ist Geschichte.

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Jederzeit, sagt Bob, würde er wieder mit den Jungs lossegeln. Aber vielleicht wird er es auch ein wenig ruhiger angehen lassen, meint er hinterher. Man nimmt es ihm nicht wirklich ab. Heute lebt er mit Kate in einem 150 Jahre alten Stein-Cottage in Schottland. Seine Frau hat seinen Film niemals gesehen. »Und ich werde ihn ihr sicherlich auch nicht zeigen! Sie würde nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mich einen Schafskopf schimpfen.« So nennen wir ihn ganz sicher nicht. Für uns ist er Reverend Captain Bob Shepton, eine Ikone und eine Inspiration – und vor allem ein Mann, den die See und das Abenteuer jung halten.

REVEREND BOB SHEPTON

Alter: 85 // Heimat: Innisfree, Schottland // Ausbildung: Bradfield College, Jesus College, Cambridge // Beruf: pensionierter Pfarrer, Schul-Geistlicher, Ski- und Bergführer, Abenteurer

Als Reverend Bob Shepton in den Ruhestand ging, begann sein Leben als Captain erst so richtig und seine Abenteuersucht übernahm die Kontrolle über sein Leben. Er segelte um die Welt, zweimal durch die Nordwestpassage, brachte Kletterexpeditionen nach Grönland. 2013 wurde er in Großbritannien zum »Yachtsman of the Year« gewählt.


Einer von 50: In der Sonderausgabe »50 Menschen, 50 Abenteuer« zeigen wir Menschen und ihre ganz persönlichen Geschichten – von skurillen Episoden über kleine und große Expeditionen bis hin zu ganzen Lebensgeschichten.

Abenteuer

Text: Sissi Pärsch
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