Finnlands wilder Osten

Moosige Wälder, stille Seen – zu Fuß und im ­Kanadier streifen zwölf Outdoorfans durch die ­Weiten Nordkareliens.

Die ganze Woche über war es so still im Wald wie auf einem Friedhof, und jetzt jagt ein Schwarm Möwen kreischend in Richtung russische Grenze. Ich muss an den Roman »Moby Dick« denken, in dem die Seevögel den weißen Wal ankündigen. Hier im finnischen Nord­karelien sind sie die Vorboten für ein anderes Großtier. Der Himmel ist bleigrau. Ein Lüftchen weht Fischgeruch heran. Wir biegen in einen Pfad. Zwei Minuten später zwischen Birken und Weidenröschen ein brauner ­Rücken. Ein Bär.

Verirrt euch nicht ins Putin-Land

Seit einer Woche ziehen wir durch die finnischen Wälder. Wir, das sind fünf Mädels und fünf Jungs aus Deutschland und Österreich. Damit weder Gretel noch Hänsel im Wald ihr Ende finden, lotsen uns zwei Reiseleiter durch die Wildnis. Jennifer Thiem, 37 Jahre alt, aus Oberfranken, und der 50-jährige Finne Kimmo Kiimalainen.

Die Hütte Jatkonsalmi Pääpirtti dient in den ersten drei Tagen als Basecamp. Ein schwedenrot angestrichenes Haus im Herzen des ­Hossa-Nationalparks. Im Wohn- und Speisezimmer hat Kimmo den Wetterbericht auf eine Tafel gemalt: jeden Tag Wolken, ein wenig ­Sonne, kein Regen. Zu Beginn der Woche sieben Grad, gegen Ende 20  Grad. Daneben der Wochenplan mit dem Streckenverlauf.

»Nach der Trockenübung stechen wir paarweise in See.«

Ich erkenne eine gewundene Linie, Hütten, ein Ruderboot. Links steht »Finnland  – EU«. Rechts gestrichelte Linien, mittendrin prangt, wie als Warnung, der Schriftzug »RUSSLAND«. Kimmo deutet auf die Schraffur und grinst: »Das Allerwichtigste ist, dass wir uns nicht ins Putin-Land verirren.« Wir wissen ja noch nicht viel über die pelzige Gefahr, die im Grenzland umherschleicht.

Der baumlange Finne drückt allen eine Streichholzschachtel in die Hand. »Trocken verwahren! Die brauchen wir jeden Tag.« Wir brühen Tee auf, schmieren Brote und verschwinden eine Stunde später im Wald. Jenni geht voran. Rechts Kiefern, links Kiefern, voraus Kiefern. Der Pfad führt durch Teppiche von Heidelbeeren. Nach einer halben Stunde bricht das Terrain ab. Unsere Blicke taumeln in den Julma-­Ölkky, den größten Seecanyon Finnlands. An den steilen Hängen türme­­n sich Felsen, dazwischen schwarzes stehendes Wasser. Die erst­e Überraschung der Tour ist Jenni und Kimmo gelungen. Wir wandern gleich der nächsten entgegen.

Über den braunen Waldboden federn wir gen Süden. Zwei Stunden später ein Pontonsteg. Darüber steigt eine Felswand an. Sie heißt ­Värikallio – bunter Felsen. Die Granitwand ist voll von steinzeitlichen Graffiti: Rentiere, eine Hexe oder ein Schamane mit dreieckigem Kopf. 61 Figuren, vor 3500 bis 4500 Jahren in den Fels graviert. Das Farbmittel: Eisenschlamm und Ocker gemischt mit Blut und Fett. Wie rau muss das Leben der Jäger und Sammler gewesen sein? Heute freut sich das Wandervolk über markierte Wege, Streichhölzer und Rastplätze. Der nächste ist 300 Meter entfernt. Überdachte Hütte, Bänke, ­Tische, Feuerstelle, Würstchenspieße. Keine Spur von Hexen und ­Schamanen, dafür wenige Schritte entfernt Plumpsklo und Holz­schuppen. Darin liegen die Scheite so übereinandergeschichtet wie die Goldbarren in Fort Knox. Wir brauchen uns nur zu bedienen.

Kimmo erklärt: »Die Forstverwaltung fährt im Winter mit Schneescootern Brennholz zu den Rastplätzen. Sonst würde­­n die Leute überall die Bäume umhacke­n.« Mit seinem Messer schabt er ein paar Späne ab, darüber legt er Reisig. Streichholz anreiben und das zarte Flämmchen mit immer größeren Holzstücken füttern. Unser Guide fischt zwei Kannen aus seinem Riesenrucksack, holt vom See Wasser für Kaffee und Tee und stellt sie auf den verkohlten Rost. Die Flammen züngeln, es raucht. Wie hypnotisiert blicken wir ins Feuer.

Die Finnen mögen es heiß. Angeblich gibt es im Lande mehr Saunen als Autos. Nach 20 gewanderten Kilometern entern die Mädels un­sere Sauna am See. Zwischen den Bäumen sehen wir, wie sie über den Steg zum See huschen. Kreischen. Kimmo schmunzelt: »Acht Grad.« Nach einer Stunde kommen sie fröhlich zurück. Monika strahlt: »Wir waren dreimal im Wasser.«

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      Nun wir Jungs. Zu fünft setzen wir uns auf die Holzpritsche. Nach einer Weile umhüllt Wärme die Haut. Ich gehe als Letzter in den See. Uaaah, eisig. Ich wate auf dem Sandboden langsam ins tiefere Wasser des Jatkonjärvi. Die Kälte prickelt an den Waden und zwickt in den Po. Es nieselt. Eine endlose Minute stehe ich einfach so da, starre in den Wald. Zuschauen wird hier allenfalls ein Bär.

      2017 feierte die finnische Nation ihren 100. Geburtstag. Die 5,5 Millionen Einwohner gönnten sich wieder mal einen Nationalpark, den vierzigsten. Der »Hossa« umfasst 11 000 Hektar Wälder und Seen. Auf einen davon geht es gleich mit Kanadiern. Kimmo erklärt, was zu tun ist. Jenni gibt im Stil einer Stewardess synchron die pantomimische Erklärung. Schwimmweste an, hinsetzen, abstoßen, paddeln. Nach der Trockenübung ­stechen wir paarweise in See.

      Unsere Flotte steuert durch eine kanal­ähnliche Schmalstelle und erreicht den Hossasee. Der Wald weicht zurück. Wir gleiten an Inselchen und Buchten entlang. In einer davon schwingt sich ein sichelförmiger Sandstrand um die Bäume. Wir ziehen die Boote den Strand hoch. Auf dem Rastplatz wiederholen sich die Arbeits­schritte. Holz holen, Späne produzieren, Streichholz anreiben, zu­schauen, wie das Feuer auflebt.

      Auf dem Holzweg durch die finnische Wildnis 

      Am vierten Tag führt uns Jenni aus dem Hossa-Nationalpark hinaus. Kimmo, die Nachhut der Kolonne, ruft: »Achte mal darauf, wie vielen Menschen wir in den nächsten Tagen begegnen.« Der Wald ver­schluckt uns. Er wirkt hier riesig, aber nie bedrohlich. Bäume, Seen, Sümpfe – dazu die Stille Kareliens. Wir bewegen uns durch einen höchst ­eigenwilligen ­Mikrokosmos.

      Je länger wir über den Itärajan retkeilyreitti, den Ostgrenzen-­Wanderweg, ziehen, desto mehr wächst die Gruppe zusammen. Wie die Küken der Gans folgen wir unseren Guides in einen Sumpf. Der Weg wird so selten begangen, dass sich die Natur das Terrain zurückholt. Moose wachsen über die Holzbohlen, hier und da reckt eine Birke oder Kiefer ihre Äste in die Laufspur. Wo die Holznägel raus­gerutscht sind, schwingen die Bretter beim Auftreten hoch.

      Plötzlich halten die Vorderen an, kramen ihre Fotoapparate aus der Tasche. »Dort! Oh, wie süß.« Zwei lange, schlanke, weiß-braune Tiere huschen über die Holzbohlen. Kimmos Augen leuchten: »Ihr habt wahnsinniges Glück, das sind Hermeline. Die sieht man so gut wie nie.« Zack, sind die Räuber unter dem Weg verschwunden. Zack, sind sie wieder da.

      Nieselregen setzt ein. Im Wald mache ich einen halb verrotteten, vielleicht drei Meter hohen Lattenzaun aus. Wie viele Stunden werden wir dem schon gefolgt sein? Kimmo meint: »Das muss ein Zaun für die Rentiere gewesen sein. Damit sie nicht nach Russland wandern. Von dort hätte man sie nicht zurückholen können.« Immer wieder drehen sich die Gespräche um den Nachbarn im Osten. Großen Bären nennen sie ihn hier. Und man reizt ihn nicht, mahnen die Finnen. Schließlich ist die gemeinsame ­Grenze 1300 Kilometer lang.

      Bären stehen auf Hundefutter

      In den vergangenen zwei Tagen haben wir im Wald nur zwei Beerenpflücker getroffen. Helena und Eero Seppänen sind die nächsten Mensche­­n, denen wir begegnen. Das Bauernpaar lebt an der russischen Grenze auf dem Hof Arola. Um 15.30 Uhr fährt uns Eero mit seinem Kleinbus an den Rand des Sperrgebiets. Zu Fuß geht es einen Forstweg hinauf. Es riecht nach Fisch. Am Himmel Möwen.

      Keiner sagt ein Wort. Eero weist uns die Hütten zu. Er deutet durch den Sichtspalt nach draußen. Einen Steinwurf entfernt, der Bär. Er macht sich über die Lachse her. Wir setzen uns auf die Drehstühle, spähen hinaus. Der Koloss schaut auf, mustert die Umgebung, schnüffelt, tappt auf uns zu. Mein Herz pocht, doch der Braunpelz hat es auf den Trog mit dem Hundefutter abgesehen, den Eero und sein Sohn in der letzten Stunde erst gefüllt haben. So kommt der Bursche wenigstens nicht auf den Gedanken, sich nach ganz anderer Nahrung umzu­schauen. Da steht er auf seinen Hintertatzen, lungert auf dem Trog und knuspert genüsslich und schmatzt wie ein Hausschwein.

      »Diese Stille Kareliens. Wir bewegen uns in einem eigenwilligen Mikro­kosmos.«

      Nach eineinhalb Stunden Fotografieren und Beim-Essen-­Zuschauen knurrt mein Magen. Bärenhunger wäre übertrieben, aber schauen wir doch mal, was Helena Seppänen alles in die Box gepackt hat. Heraus fischen wir zwei Thermoskannen. Kaffee und Tee. Und Kuchen. Den würden die Bären auch verdrücken.

      Das Lachs-und-Hundefutter-Schlemmen geht nur noch ein paar Tage. In Finnland beginnt am 20. August die Jagdsaison. Davor hängt Eero im Wald Radios auf. Was aus den Geräten herausschallt, finden die Bären offensichtlich wenig unterhaltsam, sie trollen sich rüber auf die russische Seite.

      Mir fällt eine Szene von vor zwei Tagen ein. Kimmo ist vom Weg abgezweigt, hat uns über Moosteppiche ins Dickicht geführt. »Stellt euch mal im Kreis auf. Rücken an Rücken. Jeder schaut geradeaus nach vorne.« In meinem Blickfeld fügen sich die Moose und Kiefern zu einem undurchdringlichen Vorhang. Ich atme ein, ich atme aus. Zehn Minuten lang Stille. Ich könnte noch ewig so verweilen.

      Text: Thorsten Brönner / Globetrotter Magazin
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