Mein Schwager Henry stammt aus Bristol und in Bristol müssen sie praktisch nur über den Bristol Channel hinüberschauen und sehen: Wales. Zwar halten sie in ganz Großbritannien die Waliser für eine Art Über-Ostfriesen und die Bristolians können schnell recht gereizt reagieren, wenn man sie auf ihre verdächtige Nähe zu Wales anspricht. Doch viele hartgesottene und sogar recht hippe Typen aus der Trendstadt Bristol haben ein kleines, dunkles Geheimnis: Sie gehen wandern. Und zwar in Wales. So auch mein Schwager, der mich eines Sommers auf sein Best-of-Album – er ist von Beruf DJ – des Wales Coast Path einlud. Henry sagte, dass man sich zunächst dem Pembrokeshire Coast Path widmen wolle, dem bekanntesten und auch meistfrequentierten Abschnitt des Wales Coast Path. Danach würden wir von Cardiff mit der Bahn in den Norden in den Snowdonia National Park fahren, um uns dort die lokalen Greatest Hits vorzunehmen. Ich machte mir Sorgen, weil es Frühsommer und damit Hauptreisezeit war; es würden doch bestimmt ziemlich viele Leute auf die Idee kommen, dort wandern zu gehen. Aber Henry beruhigte mich: Das würde sich alles verlaufen.
Die Tatsache, dass Wales noch nicht auf dem Schirm der Massen sei, so Henry, habe einen ganz einfachen Hintergrund. Das Land ist schon immer dünn besiedelt gewesen – speziell die Küstenregion. Die meist recht schroffe, steile Küstenlinie und der beachtliche Tidenhub der Irischen See machte den Bau von großen Häfen schwierig, und sichere Naturhäfen gab es so gut wie gar keine. Heißt: keine großen Siedlungen, keine großen Straßen, nur hie und da kleine Städtchen und gelegentlich ein Fischerdörfchen. Seitens Staat und Gemeinden gibt man sich zwar Mühe, so etwas wie eine touristische Infrastruktur vorzuhalten. Aber das Wandern auf entlegenen Küstenpfaden nebst Übernachtung in kleinen B&Bs ist eben nicht jedermanns Sache.
Nordeuropa vor 3000 Jahren
Auf dem Pembrokeshire Path, also dem südlichen Teil des Wales Coast Path, sorgte dann eine gut gelegte Wegführung mit Beschilderung dafür, dass wir nur selten länger als eine halbe Stunde das Meer nicht sahen und uns nicht besonders häufig verliefen. Wir passierten an die 300 Weidegatter und haben gut 4000 Treppenstufen überwunden (Henry hat solche Dinge in ein Notizbuch eingetragen, echt jetzt). Ein paar Ausflüge hinunter an riesige, weiße und vollkommen menschenleere Strände waren auch noch dabei. Dort im Programm: Möwen aufscheuchen wie junge Hunde. Im Pembrokeshire National Park, durch den weite Teile des südlichen Coast Path hindurchführen, haben wir dann einen kleinen Ausflug ins Landesinnere gemacht. Wer hier durch den Urwald stapft, kann sich gut vorstellen, wie fast ganz Nordeuropa vor 3000 Jahren ausgesehen haben muss: mostly wegloser Wald.
Wieder zurück auf dem Küstenpfad lauern hinter jeder Bucht und jedem Hügel grandiose Aussichten auf dräuende Felsformationen und wilde Klippen, auf filigrane Steinbögen und wie hingetupfte Inseln. Es kam mir fast so vor, als hätte hier irgendein Schöpfergeist auf engstem Raume mal zeigen wollen, was man mit Küstenlinien so alles anstellen kann, wenn man sich so richtig reinhängt. Tiefen Eindruck hinterließ bei mir die Strecke zwischen Stackpole und der winzigen Kapelle St. Govan’s Head: eine Küstenlandschaft mit gigantischen Klippen und einem überreichen Vogelleben. Dort brandet der Atlantik ungezügelt an die Küste und hat Höhlen groß wie Flugzeughangars aus den Felsen gewaschen. Die prekär sich an die Klippen krallende Kapelle eines irischen Wanderpredigers trotzt hier seit dem 6. Jahrhundert den Elementen. Was mich angeht, hätte ich gern viele dieser Aussichten schweigend in mich aufgenommen. Aber Henry war sich seiner Rolle als Reiseführer sehr bewusst und versorgte mich daher fortwährend mit einer Flut von historischen Detailinformationen. Die walisische Küste ist gespickt mit Spuren versunkener Reiche und Zivilisationen. Festungsanlagen aus der Eisenzeit und verfallene Burgen der normannischen Eroberer, Castles der ungeliebten englischen Lords und sogar napoleonische Forts säumen den Weg. Und die vielen versteckten Buchten, die tiefen Höhlen und unübersichtlichen Küsteneinschnitte hatten Wales schon immer zu einem Tummelplatz für Piraten und Schmuggler gemacht. Henry hatte also viel zu erzählen …
Zehn Tage später waren wir auf dem Weg nach Norden, nach Snowdonia. Henry hatte einige Tagesetappen ausgewählt, die uns von dem Städtchen Tywyn in etwa der Mitte des Snowdonia National Park bis hin zu der Halbinsel Anglesey führen sollten. Es ist eine seltsame Landschaft, auf die man hier stößt, denn im Osten liegt der riesige Nationalpark, der plötzlich mit einer grandiosen Gebirgslandschaft aufwartet – komplett mit kristallklaren Seen, steilen Bergflanken und alpinen Wiesen. An den schmalen Küstenstreifen klammert sich jedoch eine teils waldige, teils moorige Landschaft, die unvermittelt in meist steinige Strände übergeht. Man stelle sich vor: Muscheln, Möwen und ein altes Fischerboot; dazu die bleigraue Weite der Irischen See. Aber wenn man sich umdreht, schaut man auf eine Kulisse wie aus dem alpinen Klischeehandbuch für wilde Bergwelten.
Von Tywyn ging es die Küste entlang nach Norden, auf Pfaden, die häufig kaum Platz fanden zwischen dem Wald – der an manchen Stellen offenbar vorhatte, direkt ins Meer hineinzuwachsen – und dem Strand. Henry meinte, dass in Snowdonia die Besucher eher an den Bergen im Landesinneren interessiert seien. Die beliebtesten Wanderwege des Nationalparks seien im Sommer sogar dafür berüchtigt, regelrecht überlaufen zu sein. Der Coast Path hingegen war hier eher touristisches Stiefkind. Bester Beweis dafür: Die in Pembrokeshire noch so sorgfältige und durchgängige Beschilderung war eher anfallsartigen Tafelansammlungen unterschiedlichster Jahrgänge gewichen. Hier war eindeutig noch weniger los als unten im Süden. Und wenn Henry mal gerade nicht redete, war es still. Und leer. Himmlisch. Und dann kam sie. Die Aussicht, wegen der mich mein Schwager überhaupt hier oben hergeschleppt hatte.
Filmreife Kulissen
Wir passierten einige komplett aus unbehauenen Feldsteinen errichtete, immer noch bewohnte Bauernhäuser aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, die von grasüberwucherten Gärten und knorrigen Gattern umringt waren. Jedes einzelne davon hätte als Filmkulisse herhalten können. Wenn Henry gerade nicht redete, hörte man nur gelegentlich den Wind säuseln, so still war es.
Später standen wir dann endlich auf der berühmten Barmouth Bridge, die über den Mawddach-Fjord hinüberführt. Die Brücke selber ist nichts als ein schmaler Bahndamm, an den eine Fußgängerbrücke aus Holz angeklebt ist. Sie machte einen gänzlich unverfälschten und authentischen Ein- druck. Ihrem Anblick nach hat niemand seit ihrer Eröffnung 1867 auch nur eine einzige der Bohlen ausgewechselt. Aber das ist alles kleinkariertes Genörgel im Vergleich zu dem Anblick, der sich uns nun bot, als wir genau in der Mitte der rund 700 Meter langen Brücke standen. Über die Wasserfläche des sich immer weiter verengenden Mawddach-Fjords hinweg schauten wir auf ein grandioses Landschaftsgemälde, das erst sanfte Hügellandschaften, dann Vorgebirge und schließlich, dahinter, die hohen Berge um den Snowdon Peak preisgab.
Das Wasser trennte die beiden Ufer bis weit ins Land hinein, und so entstand tatsächlich der Eindruck einer tief gestaffelten Theaterkulisse – nur eben gigantischen Ausmaßes. Es war, als stünde man in einer natürlichen Kathedrale: das Gefühl eines umschlossenen Raums, der dennoch das Pathos riesenhafter Unendlichkeit in sich trug. Selbst Henry hielt bei diesem Anblick minutenlang die Klappe.