Knochenjob auf der »Road of Bones«

Was haben eine alte russische ­Militärkarte, ­Hollywood-Sta­­r Ewan McGregor und zwei Schlauchboote miteinande­­r zu tun? Die Antwort liefert ­diese Geschichte über eine 2000 Kilometer lange Reise auf der »Road of Bones« durch die sibirische Wildnis.

Kilian Reil

Romans Hand streicht über ein wirres Geflecht aus Linien, Strichen und grünen Flächen – viele grüne Flächen, riesige grüne Flächen. Er kniet auf dem Boden über einer XXL-Landkarte. Es ist wie in einem Labyrinth: Sein Finger folgt einer Linie und stößt dann an einen Gebirgszu­­g. Roman seufzt. Er setzt sich auf und versucht, einen andere­n Weg zu finden. Apps oder GPS-Tracks? Keine große Hilfe. Wer den Osten Russlands aus der Ferne erforschen möchte, stößt schnell an die Grenzen der Digitalisierung.

Schon früh hatte Roman beiläufig das Wort »Bikerafting« fallen gelassen: Für uns Europäer ist die Kombination aus Fahrrad und Schlauchboot eine eher unbekannte Form der Fortbewegung. Aber: Sie eröffnet ganz neue Möglichkeiten – Land- und Wasserrouten lassen sich verknüpfen. Für uns heißt das: Wir sind nicht nur auf der Suche nach geeigneten Straßen, sondern auch nach Flüssen.

Einige Tage zuvor fanden wir im Internet endlich brauchbares Kartenmateria­­l: Eine dubios erscheinende Website versorgte uns mit russischen Militärkarten aus den 50er-Jahren. Roman und ich staunten darüber, welche Arbeit damals in die Vermessung gesteckt wurde. Selbst die hintersten unbewohnten Winkel wurde­n kartografiert.

»Jakutien, 1500 Kilometer auf dem Rad, 500 ­Kilometer zu Wasser, fünf ­Woche­­n Zeit – das Rezep­­t für ein ­perfektes Abenteuer.«

Kilian Reil

Immer wieder blieben wir an der Region zwischen dem Werchojansker Gebirge und dem Fluss Lena hängen: Jakutien, auch Republik Sacha genann­­t, ist knapp neun Mal so groß wie Deutschland. Allerdings wohnen dort nur circa eine Million Menschen – davon etwa die Hälfte in der Hauptstadt Jakutsk.

Eine Woche später ploppte eine Mail von Roman auf meinem Computerbildschirm auf: »Das müssen wir uns genauer anschauen!« Dann ein Video-Link: Ein Mann fährt mit seinem Motorrad auf einer Straße, die in Europa nicht mal als Schotterweg durchgehen würde, eher als Acker. Der Mann? Ewan McGregor – besser bekannt als »Star Wars«-Jed­­i Obi-Wan Kenobi. Der Film »Long Way Round« begleitet ihn auf seiner Fahrt über die »Kolyma Trassa« von Jakutsk nach Magadan.

Die Kolyma Trassa, im Westen auch Road of Bones genannt, wurde von Tausenden Zwangsarbeitern unter Stalin erbaut. Während dessen Herrschaft zwischen 1927 und 1953 starben unzählige politisch­e Gefangen­­e und Gulag-Insassen – durch Hinrichtungen, Hungertod oder die extremen Wetterbedingungen. Die Knochen dieser Toten bilden angeblich das Fundament der Road of Bones und verleihen ihr den furchtbaren Namen.

Ein gescheiterter Hollywood-Star

McGregors Motorrad war diesen Straßen nicht gewachsen: Nach mehrere­­n Rückschlägen mussten sich der Schauspieler und sein Team einem Konvoi anschließen. Nur so schafften sie es, die fern­e Stadt Magada­­n am Ochotskischen Meer zu erreichen. Ich war überzeugt: Das Ziel für unser Abenteuer war Jakutien – und die Straße der Knochen.

Nach neun Monaten Planung hatten wir endlich eine Route: von Jakuts­k 1300 Kilometer auf der Road of Bones. Danach 200 Kilometer unsere Räder durchs Hinterland schieben. 20 Kilometer über einen Gletschersee paddeln, einen 150 Kilometer lange­n Pass überwinden. Abschließend 500 Flusskilometer Richtung Ochotskisches Meer.

Gesagt, getan: Als wir Ende Juli 2019 auf der Landebahn von Jakutsk aufsetzen, fallen Roman und mir zwei Steine vom Herzen. Mit 140 Kilo Gepäck haben wir den Ausgangspunkt unsere­s Abenteuers erreicht. Nun liegen fünf Wochen sibirische Wildnis vor uns. Eine rund 2000 Kilo­meter lange Strecke und verdammt viel Schotte­r und Schlamm.

Schon die ersten Kilometer auf dem Fahrrad aus Jakutsk heraus sind, nun ja, nennen wir es spannend: Knappe Überholmanöver, hupend­e und wild gestikulierende Autofahrer – Fahrräder scheinen die Locals dort eher selten zu sehen. 

»Wie eine ausgedrückte Zahnpastatube klemmt mein Boot zwischen den Baumstämmen im Wasser.«

Kilian Reil

»Good luck!«, gibt uns der alte Mann noch mit auf den Weg

Nach zehn Kilometern kommen wir zur Fährstation an der Lena – dem jakutischen Hauptstrom. Schnell stelle­n wir fest, dass wir den reißenden Fluss mit unseren Packrafts nicht überqueren können. Die Strömung ist zu stark. Unsere Jungfernfahrt fällt also aus – wir nehmen die Fähre ans andere Ufer. Während der einstündigen Fahrt kommt ein älterer Mann auf uns zu. Als er unsere Räder sieht, schüttelt er den Kopf. Er lacht und drückt uns eine halb volle Flasche Wodka in die Hände. »Für den Weg …«, grinst er. Und dann sagt er etwas, das wir noch häufiger hören werden: »Good luck!«

Am anderen Ufer angekommen, radeln wir auf der Schotter­piste los. Da ist sie: die »Road of Bones«. Wir fahren durch lichte Lärche­n- und Kiefernwälder, durch Birkenhaine vorbei an alten, zerfallenen Kolchosen, verlassenen Höfen und wilden Pferde­herden.Die anfängliche Abwechslung weicht bald einer Monotonie: tagelang nichts als Bäume. Am Horizont nur Wald. Unser erstes Etappenziel, das Suntar-Chajata-Gebirge, können wir in der Entfernung nur er­ahnen. Der Straßenbelag ist eine bunte Mischung aus Sand und Schotter und um einiges weniger eintönig als das Panorama.

»Jakutien ist knapp neun Mal so groß wie Deutschland. Allerdings wohnen dort nur circa eine Million Menschen.«

Am Abend errichten wir unser Zelt auf einer Kiesbank am Fluss – der einzigen unbewaldeten Fläche neben der Straße. Während ich Holz für ein Feuer sammle, ruft mich Roman zu sich. Er zeigt auf den Sand vor seinen Füßen. Die frische Tatzenspur eines Bären ist deutlich zu erkennen. Wir sehen uns mit großen Augen an und beschließen, das Lagerfeuer besonders hoch zu schüren.

Nach fünf Tagen erreichen wir Chandyga, ein kleines Städtchen am Ufer des Flusses Aldan. Verrostete Fabriken, gestrandete Lkw, ka­putte Autowracks in den Vorgärten und die abblätternde Farbe an den Hütten und Holztüren sorgen für ein ziemlich raues Stadtbild. Als wir in die Ortsmitte radeln, begrüßen uns die wenigen Bewohner mit überraschten Gesichtern. Ein paar Kinder beobachten uns verwundert, während wir unsere voll bepackten Räder vor einem kleine­n Supermarkt abstellen und uns auf die Suche nach etwas kulinarischer Abwechslung machen.

Staub fressen, Wildwasser meistern

Wir legen die letzten Kilometer der schnurgeraden Road of Bones zurück und erreichen endlich unser heiß ersehntes Etappenziel: die Berge. Jede Kurve, jede Anhöhe eine willkommene Abwechslung. Ein Lkw passiert uns. Die Staubfahnen hinterlassen eine dicke Kruste auf unseren Armen.

Am neunten Tag lassen wir die Road of Bones hinter uns. Mehr schiebend als radelnd bewegen wir uns mit 40 Kilometern pro Tag nur schleichend auf unser nächstes Ziel zu: Dyby, ein Fluss, der aus dem Gebirge entspringt und in den Aldan fließt. 

Am Dyby angekommen, packen wir unsere roten Gummiboote aus – die, wie wir später erfahren werden, mehr aushalten als vermutet. Unser Gepäck und die Räder verstauen wir im vorderen Teil der Boote. Diese lassen sich durch die 70 Kilogramm Last jedoch nur schwer steuern. Zwar hatten wir zu Hause natürlich schon eine Testfahrt ­gemacht, doch waren die Verhältnisse dort nicht mit den reißenden russischen Flüssen zu vergleichen.

Der Dyby fließt durch die jakutische Gebirgslandschaft und überrascht gerne mit kniffligen Wildwasserstellen. Diese Passagen sind technisch nicht schwer, aber sehr unübersichtlich. Um­gestürzte Bäume und Wurzeln ragen in den Fluss und verstecken sich unter der Wasseroberfläch­­e. Unterschiedliche Strömungen bilden Kehrwasserstellen mit starken Strudeln.

»Es muss ja weitergehen, oder?«

Am zweiten Paddeltag erkenne ich zu spät, dass unter der Wasser­oberfläche zwei Baumstämme im Fluss liegen. Die Strömung presst mich dagegen und wickelt mich und mein Boot um die Äste unter Wasser. Das Boot wird immer weiter unter die Baumstämme ­gedrück­­t – keine Chance, mich zu befreien. Ich schnappe nach Luft und ver­suche mich zu orientieren. Ich greife nach den Ästen über mir, um mich daran festzuhalten. Mein Herz rast, mir wird kalt. In letzter ­Sekunde kann ich mich doch noch befreien und ziehe mich ans Ufer. Wie eine ausgedrückte Zahnpastatube klemmt mein Boot zwischen den Baumstämmen. Mein Rad und mein Gepäc­k sind imme­r noch daran festgezurrt. Mit letzten Kräften ziehe ich das Boot aus dem Wasser.

Nachdem wir den Schock überwunden haben, stellen wir erleichtert fest, dass Boot und Gepäck wie durch ein Wunder unversehrt sind. »Was machen wir jetzt?«, fragt Roman und klopft mir auf den Rücke­n. Ich trockne meine Brille an einem Handtuch und erwidere: »Na ja … es muss ja weitergehen, oder?« Wir einigen uns darauf, ab jetzt alle schwierigen Stellen in Ruhe zu untersuchen und notfalls großzügig zu umfahren. Dann lassen wir unsere Boote wieder ins Wasser gleiten. Einige Kilometer fluss­abwärts wird der Strom breiter und ruhiger. Die spektakuläre Landschaft und die leuchtenden Farben der unberührten Natur lassen uns den Schock vergessen. Wir sind vermutlich die einzigen Menschen im Umkreis von hundert Kilometern. Hier und da ist ein Elch oder ein Bär am Ufer zu sehen. Ich atme tief ein, Roma­n grinst mich zufrieden an. Drei Wochen sind vergangen, seitdem wir in Jakutien gelandet sind.

Ein Ausflug mit Nachwirkungen

300 Kilometer flussabwärts treffen wir auf die Mündung in den Alda­n. Ein riesiger Strom, der über die Lena ins Nordpolarmeer fließt. Das Paddeln wird monotoner: Seitdem wir die Berge hinter uns gelassen haben, ist der Gegenwin­d stärker geworden. Doch dank Romans Segel-Know-how gewinnen wir bald an Geschwindigkeit: Wir sägen aus jungen Pappelbäume­n, die wir in großen Treibholzstapeln am Ufer finden, ein paar Bretter. Aus unseren Booten, den Brettern und einem Mast in der Mitte bauen wir uns einen Katamara­n. Das Sege­l? Unse­r Tarp. Mit bis zu 15 Kilometern pro Stunde schießen wir den Aldan hinab, vorbei an kleinen Dörfern und vereinzelten Lastkähnen.

Es ist Ende August, als wir unser Segelboot wieder an Land ziehen, um die finale Etappe anzugehen. Die Temperaturen sind in den letzten Tage­n gesunken und der Dauerregen hat uns zu­gesetzt. Vom Dorf Ust’-Tatta führt eine Straße zurück auf den letzten Teil der Road of Bones. Doch sie hat sich in ein tiefes Schlammbad verwandelt. Der lehmige Boden klebt an unseren Reifen und im Rahmen – kein Weiterkommen.

»Mit einem Mix aus Vorfreude und böser Vorahnung gesellen wir uns zu den Männern …«

Roman und ich diskutieren, wie um Himmels willen wir voran­komme­n sollen, als uns ein alter, klappriger Jeep entgegenschlittert. Drei Männer springen aus dem Auto und fragen uns freudig, wo wir hinfahren. Als wir ihnen unser Vorhaben erklären, fangen sie laut an zu lachen. Dann zeige­n sie auf unsere Räder und deuten auf das Dach des Geländewagens. Wir sollen lieber mit zum Angeln kommen, sagen sie in gebrochenem Englisch.

Mit den Rädern auf dem Dach des Jeeps präsentiert der Fahrer seine­n spektakulären Fahrstil. Wir halten vor einem kleinen Holzhaus, dessen Farbanstrich von der Fassade blättert. Die Tür geht auf und eine Frau begrüßt uns herzlich. Sie ist die Mutter von einem der drei Angler. Wild gestikulierend zeigt sie auf den Esstisch und bedeutet uns, dass sie uns etwas zu essen bringen will.

Nach der warmen Mahlzeit treibt uns Kolya, einer der Männe­r, in eine Saunahütte: Vor dem Angeln sollen wir uns noch wasche­n. Nach mehr als vier Wochen ohne Dusche eine sehr willkommene Aufforderung – und dringend nötig. 

Kurz danach fahren wir mit dem Jeep zurück zum Aldan. Doch wir sind nicht alleine – etwa 25 Russen versammeln sich um kleine Boote aus Aluminium. Mit diesen fahren wir auf dem Fluss zu einer Reihe von Blockhütten im Wald. Sie tragen Tarnkleidung, Gewehre und schleppen an die 80 Flaschen Wodka in die Hütten. Mir wird klar: Der Abend wird sportlich. Mit einem Mix aus Vorfreude und böser Vorahnung gesellen wir uns zu den Männern …

Mit pochenden Kopfschmerzen wache ich am Morgen auf. Zum Frühstück schiebt uns einer der Gastgeber zwei Gläser Wodka zu. So würde der Kater schneller verfliegen, versichert er uns in Zeichensprache.

Am späten Vormittag verteilen sich die Männer erneut in die Boote. Roman und ich sehen uns verwirrt an, denn unser Boot ist das einzige, das flussaufwärts fährt. Unsere beiden Begleiter unterhalten sich angeregt, als wir nach einigen Kilometern mitten auf dem riesigen Strom anhalten. Kolya wirft den Anker ins Wasse­r und fängt an, Netze aus dem Fluss zu ziehen. Die Männer greifen nach den Fischen und werfe­n sie in die Eimer vor Romans und meinen Füßen. Mit zwei Eimern voller Störe fahren wir zurück zu den Blockhütten. 

Geschafft – in jeder Hinsicht …

Tags darauf verlassen wir das Dorf und machen uns auf den Weg nach Jakutsk. Vor uns liegen weitere 350 Kilometer auf schwierigen Pisten und im Schlamm. Wir müssen uns beeilen, um den Rückflug zu erwischen, denn unse­r Angelabenteuer hat uns ungeplant aufgehalten.

Nach fünf Wochen erreichen wir Jakutsk. Bei einer Tasse Kaffee unterhalte­n wir uns über das Erlebte: Die un­endlichen Weiten diese­r Region und die Zeit in der Wildnis haben ihre Spuren in unseren Köpfen hinterlassen. Waren wir uns vorher sicher, ob wir die Strecke komplett schaffen würden? Sicher nicht! Würden wir noch mal einen Bikerafting-Trip machen? Auf jeden Fall! Die Mongolei wäre perfekt. Oder mit einem geringeren CO2-Fuß­abdruck im Tatragebirg­e. Oder Grönland? Und so endet diese Reise, wie sie begonnen hat: mit der Suche nach dem nächsten Abenteuer.

Kilian Reil