In einer Welt vor unserer Zeit
Im Schweizerischen Nationalpark geht es superarchaisch zu, am Ende des Tages ist man ganz berührt und glücklich mit sich selbst.
Text Ingo Hübner
Zuerst hört man es nur. Ein lang gezogenes, blechernes Röhren, als ob jemand einer altersschwachen Posaune den Garaus machen wollte. Gedämpft durch einen feuchten, wabernden Schleier, der die morgendliche Welt in beruhigendes Weiß hüllt.
Vor wenigen Minuten waren die nächsten Meter des Weges ins Val Trupchun noch ziemlich gut sichtbar. Jetzt kann man das nicht mehr so einfach behaupten. Verein zelte Lärchen und Arven tummeln sich schemenhaft im Nebel und immer wieder diese megacoolen Sounds wie aus dem Nichts. Nebelhörner auf undurchsichtiger See. Freilich müssen sich die Gesellen, also die Rot hirsche, schön anstrengen, schließlich geht es für sie ja um alles oder nichts. Ob sie am Ende des Tages mit ihren Brunftschreien eine Partnerin auf sich aufmerksam machen konnten oder nicht.
Was man über sie und den Schweizerischen Nationalpark gestern doch alles im puristisch angehauchten Nationalparkzentrum in Zernez erfahren hat: Der mächtige Rothirsch ist eine der rund 30 Säugetierarten, die im Park heimisch sind. Kurz vor Herbstbeginn verwandeln sie das Val Trupchun regelmäßig in einen tierischen Konzertsaal, überhaupt ist das Tal ein Sammelbecken für Tiere und damit ein hervorragender Ort, um sie zu beobachten. Und 100 Vogelarten und über 650 Blütenpflanzen kommen noch dazu. Zwar besitzt der Nationalpark keine himmelstarrenden Gipfel, keine gleißenden Hotspots, an denen sich die Besucher drängen und leise »Ahs« und »Ohs« seufzen. Da für hält hier seit etwas mehr als 100 Jahren das Schicksal, das Ungezähmte, das Unwägbare, das pure Wilde das Zepter in der Hand – und das wirkt in dieser bis ins kleinste Eck geordneten und durchorganisierten Schweiz noch roher, unmittelbar zupackender als woanders. 2014 feierte er seinen hundertsten Geburtstag, es war der erste Nationalpark Mitteleuropas. Seit seiner Gründung werden innerhalb seiner Grenzen keine Bäume geschlagen, gefallene nicht abtransportiert, keine Tiere gejagt, keine Kühe geweidet, der Natur wird einfach ihr Gang gewährt. Der Mensch ist auf diesem Boden nur Gast und darf gerade mal wandern.
Beim König der Wälder
Während er das tut, sieht er, irgendwann nachdem die Sonne den Nebel verscheucht hat und er ganz still und beinahe aufgelöst in dieser grandios archaischen Umgebung ist, so einen Röhrer ganz gemächlich vorüberstolzieren. Und nun fühlt er sich ganz innig mit der Welt, und mit so viel Gefühl im Herzen wandert er später entlang einer Bergflanke wieder hinunter und immer weiter hinunter. Bald mitten durch den Wald. Hier stehen sie wieder, die knorrigen Arven, aus denen in den Dörfern der Region die Wohn- und Schlafstuben der traditionellen Häuser gezimmert sind.
Gegen Abend dann der dramatische Sonnenuntergang hoch über dem Ofenpasstal mit Blick in eine Weite und einem Pathos, das an Kanada oder Alaska erinnert. Die Arven schmiegen sich grün und golden in weite Bergflanken. Und der glückliche Mensch denkt plötzlich: Irgendwo in dieser wilden Landschaft könnte auch so ein alter Schulbus versteckt sein wie in Jon Krakauers Buch »Into the Wild«.
St. Moritz kann auch Down to Earth
Der Schweizerische Nationalpark ist ein einmaliges Stück echter Wildnis, gleich um die Ecke von St. Moritz. Erleben kann man seine Urtümlichkeit am besten auf Wanderungen von gemütlichen Tagestouren bis hin zu mehrtägigen Routen. Ein besonderes Highlight ist das Val Trupchun, in dem ab etwa Anfang September die Hirsche zur Brunft zugange sind. Während dieser Zeit gibt es auch von Parkrangern geführte Wanderungen. Infos dazu: www.engadin.stmoritz.ch
Im Velo-Märli
In Arosa Lenzerheide will man gar nicht mehr runter vom Fahrradsattel: Zahlreiche Touren laden zum Alp-Fahren ein.
Text Cindy Ruch
Konzentration! Blick auf den Boden, auf das Mountainbike, das sich eine Spur auf dem Trail bahnt. Schweißtropfen laufen in die Augen. Die Nachmittagssonne ist noch stark. Aufgeben ist nicht. Man tritt weiter in die Pedale, Runde für Runde. Man wird die Grenze schon noch erreichen, diesen Moment, wenn die Anstrengung der Normalzustand ist, wenn die angespannten Waden sich wie auf einem Spaziergang anfühlen, das Keuchen normales Atmen ist, die Anstrengung in den Flow übergeht. Bis dahin: durchhalten.
Die Almen-Tour ist eine von vielen Mountainbiketouren in Arosa Lenzerheide. Im Winter ist hier Skigebiet, im Sommer Wander- und Bikergegend. Zu den Anstiegen und Abfahrten gesellen sich weite Ausblicke und urige Alphütten. In der Alphütte Fops gab es noch würzigen Speck auf den Teller, um den ordentlichen Anstieg zur Alp Nova zu bewältigen. Dann verwandelt sich die Anstrengung endlich in den Automatismus. Es läuft wie von selbst über Stock und Stein und Sand. Die Gedanken schweifen ab – zum Vormittag, als man mit den Kindern auf dem Eichhörnliweg in Arosa war.
Morgens low – abends flow
Bei diesem Spazierweg war nicht ganz klar, wer sich mehr auf die Begegnung freute: die Kinder oder die Eichhörnchen. Die Eichhörnchen flitzten ohne Scheu aus dem Schatten auf die schüchtern ausgestreckte Hand mit den Haselnüssen und Maiskörnern zu, sprangen dann zurück in die Baum kronen, um kopfüber wieder herunterzuflitzen. Ganz schöne Kasper, die Kinder lachten. Am Ende des 1,7 Kilometer langen Eichhörnliwegs saß man auf einem der Bänkli am Waldspielplatz und genoss die Aussicht auf die sanft grünen Plessuralpen. Jetzt, auf dem Trail, ist noch keine Zeit für Aussichten – man hatte gelesen, dass sich Profi nennen darf, wer ohne abzusteigen bis zur Alp Nova hochkommt.
Der Trail wird kniffliger. Oder die Puste weniger. Konzentration. Woher kam die Motivation, hier hochzukraxeln? Das muss gestern gewesen sein, auf der anderen Seite des Tals. Gemütlich schaukelte man in der rotweißen Gondel von der Talstation Rothorn zur Mittelstation Scharmoin. Darunter die Tannenwipfel, ab und zu sah man einen Pfad – vielleicht der Wanderweg für den Nachmittag. Plötzlich, zur Linken, sprang ein Mountainbiker in die Luft. Und noch einer! Mit kontrollierten Bewegungen landeten sie und bretterten weiter, die Mundwinkel konzentriert zusammengekniffen, als würde das helfen, jedes Staubkorn und jeden kleinsten Ast vorzeitig zu sehen. Die steile Weltcup-Downhill-Strecke ist eine große Nummer. Die fünf Abfahrtsstrecken sind markiert wie Skipisten: blau für einfach, rot für mittel und schwarz für schwierig. Die blaue Flowline wäre etwas für den Start, in Kurven und kleinen Sprüngen durch den Wald sausen, und zuvor gemütlich mit der Gondel hinauf – vielleicht morgen? – überlegt man sich, und ehe man sich versieht, ist man wieder im Jetzt und oben angekommen auf der Alp Nova. Das Tal der Lenzerheide liegt zu Füßen. Im Südosten türmt sich der knapp 3000 Meter hohe felsige Gipfel des Lenzerhorns auf, und weiter südlich sitzen die drei Berggipfel Ela, Mitgel und Tinzenhorn. Ja, warum eigentlich nicht morgen? Das nächste Velo-Abenteuer wartet. Man ist ja jetzt Profi.
Auf krasse Action folgt die Begegnung mit den Eichhörnli Süüüüüß!
Eldo-Rad-o Arosa Lenzerheide
Arosa Lenzerheide hat ein 500 km großes, ausgeschildertes Biketourennetz und 900 km GPS-Touren. Den Lenzerheide Bikepark erreicht man von der Talstation Rothorn mit dem Sessellift zur Mittelstation Scharmoin. Dort führen fünf Freeride-Strecken zurück ins Tal. Im Sommer (7.-9. Juli 2017) finden die UCI Mountain Bike World Cup Rennen statt. Infos zur Lenzerheide: www.lenzerheide.com
Der Eichhönrnliweg in Arosa ist ein familientauglicher Spazierweg mit Waldspielplatz und Grillstelle. Infos zu Arosa und dem Spazierweg unter: www.arosa.ch
Wo die steinwilden Tiere wohnen
Das Safari-Feeling einer Steinwildbeobachtung macht Laune und schärft die Sinne.
Text & Fotos Thomas Jutzler
Biiiiiiieeeeeep. Hau drauf. Stille. Der alte BraunReisewecker hat mal wieder seinen Dienst getan. Um 04:30 Uhr! Alles wieder ruhig. Das Fenster: ein schwarzes Viereck. Noch ist Alpenwald-finstere Nacht. Wieder umdrehen geht nicht. Wir sind mit Domenic verabredet, einem örtlichen Jäger, der uns mitnehmen will, um in den Morgenstunden Steinwild zu beobachten. Kurvenreiche Autofahrt durch die Nacht von Scuol nach S-Charl. Wir starten die Wanderung auf dem Dorfplatz. Finster schaut der Braunbär des Dorfbrunnens aus seinen hölzernen Augen. Wir grüßen ihn (immerhin das erste Wild des Tages) und gehen zwischen den wenigen Engadiner Häusern hin durch in Richtung Val Sesvenna. Es nieselt. Überall in den Wiesen bilden sich kleine Rinnsale. Das Wasser fließt in lustigen kleinen Mäandern den Abhang hinunter und springt hier und dort über den Weg.
Ich liebe es. Allgemeine Übereinstimmung: Es gibt nichts Besseres, als im Sommer im Regen zu wandern. Die Luft schmeckt frisch, die Nieseltropfen benetzen die Haut. Alles glänzt. Man kommt nicht so schnell ins Schwitzen und der Geruch des Waldes hat intensive Noten von Moos, Harz und Erde. Die Natur setzt dem Sommer-Sonne-Post kartenklischee mit Kraft etwas entgegen.
Es dämmert diffus. Der Weg steigt stetig an, wird vom breiten Waldweg zum typischen Bergwanderpfad. Immer wieder liegen Felsbrocken im lichter werdenden Nadelmischwald. Über unseren Köpfen fliegt ein Arvenhäher. Vor uns eine Kiefer, die mit ihren Wurzeln einen Fels umschließt. Wir witzeln: »Wenn wir kein Steinwild beobachten, können wir ja wie wild diesen Stein beobachten.« Domenic brummt irgendwas Unverständliches in seinen grauen Schnauzer. Wahrscheinlich sollte es wie ein aufmunterndes »Wird schon« klingen.
Schau mir in die Augen, Kleines
Wir ziehen weiter in Richtung Baumgrenze. Immer wieder reißen die tief hängenden Wolken (andere würden Nebel sagen) auf und geben den Blick auf unendlich scheinende Steilwände frei. Dann schließt sich die Lücke wieder. Zurück bleibt die Erinnerung an diesen kurzen Moment, in dem man den mächtigen Fels bewundern konnte. Stand da nicht ein Steinbock auf dem Fels vorsprung?
Weitergehen! Der Wald hat sich zurückgezogen. Es muht! Es bimmelt! Zunächst hören wir es nur, dann treten sie aus ihrem Nebelversteck: die Kühe der nahe gelegenen Alp Sesvenna.
Immerhin. Hauptsache Tiere! An der Alp angekommen, werden wir vom Hausherren begrüßt: Er springt von Pfütze zu Pfütze, dass es nur so spritzt, ist drei Jahre alt und heißt Alex. Und – im Gegensatz zu uns – scheint er zu wissen, welcher Akt jetzt folgt. Voller Vorfreude stiert er auf den Rucksack von Jäger Domenic, aus dem jetzt ein riesiges Zeiss-Fernglas gezaubert wird.
Wir positionieren uns im Stall. Das Ganze hat etwas von einer überdimensionierten Weihnachtskrippe – mit Alex als Jesuskind. Domenic fokussiert den gegenüberliegen den Hang. Volltreffer! Jesus darf zuerst schauen: Eine Herde von etwa 30 Gämsen frühstückt auf dem Grat gegenüber. Weiter rechts springt ein Steinbock durch den Fels. Zumindest behauptet das Domenic. Ich sehe nichts. Oder doch? Nein. Doch! Plötzlich pfeift es. Ein Murmeltier schaut herausfor dernd, als wollte es sagen: »Vergesst doch die blöden Steinböcke. Wir sind doch sowie so viel cooler!« Stimmt.
Zurück in S-Charl sitzen wir im Alpengasthof Crusch Alba und fachsimpeln darüber, wer, wo, wie viele Steinböcke gesehen hat. In einem aber sind sich alle einig: Das Wetter hat in jedem Fall mitgespielt.
Wer Steinwild beobachten will, sollte sich einen ortskundigen Führer suchen.
Auge in Auge mit den Big Five
Auf www.graubuenden.ch kann man wunderbar stöbern. Hier findet man Wissenswertes zur Region, zu Aktivitäten und Unterkünften. Und natürlich Informationen zu geführten Touren bzw. Safaris zu den Big Five Graubündens: also zu Steinbock, Gams, Rothirsch, Murmeltier und Adler. Wer mitten in S-charl übernachten möchte, kann dies zum Beispiel im Crusch Alba tun. Sehr authentisch, sehr graubündnerisch: www.cruschalba.ch
Am weltbesten Zauberberg
Davos kennen wir als Ausrichter des Weltwirtschaftsforums. Dabei ist die Region vor allem eins: Urlaubstausendsassa.
Text Thomas Jutzler
Renn, renn, renn, renn!« Ausbilder Maxi brüllt mir hinterher. Ich stolpere den Berg hinunter. Falle mehr, als dass ich irgendeine eines Erwachsenen würdige Laufbewegung mache. »Nach oben schauen! Kontrollblick! Bremse!«, schreit es, »lauf weiter!« Wie auf Autopilot tue ich, wie mir geheißen. Meine Füße wackeln so seltsam über den Boden, als würden sie in der Luft hängen. Moment. Sie hängen in der Luft. Ist das geil. Ich fliege! Mein Herz hüpft vor Freude und Aufregung wie ein wild gewordener Flummi in meiner Brust. Vor lauter Ist-das-geil-Gefinde vergesse ich total, was in der Theorie so lapidar einfach schien: das Landen. Auf so einem Idiotenhügel im Tal ist man ja beim ersten Gleitschirmflug nur ein paar Sekunden in der Luft, bevor man schon wieder in Richtung Boden fliegt; der gerade ziemlich schnell näher kommt. Ich renne in einem Affenzahn – vollgepumpt mit Adrenalin und Glückshormonen – über die Wiese. Stolpere natürlich. Und bin wunschlos glücklich.
Davos Klosters wirbt damit, das weltbeste Gästeprogramm zu haben. Starke Worte. Für mich Anlass, mal ein paar Sachen aus zuprobieren, die ich immer schon mal machen wollte.
Nach der Gleitschirm-Grundkurs-Action kommt die nächste Luftnummer dran: Ich will, mit der mit Luft prall aufgepumpten Marshmallo-Version eines Surfbretts, auf den Davosersee. Auf Hawaii war das Stand Up Paddling ausschließlich dem König vor behalten. Nur dieser durfte sich auf dem Wasser stehend fortbewegen. Mit dieser Info im Hinterkopf mache ich ein paar wackelige Paddelschläge in Richtung Seemitte und lege mich dann auf mein Brett. (Ich bin schließlich kein König.) Der Blick geht auf die sich auftürmenden Hochgebirgsspitzen. Einer von diesen wolkengekrönten Gipfeln müsste eigentlich das Jakobshorn sein. Der Startpunkt für den Mountainbike-Trail mit dem klingenden Namen »Alps Epic Trail Davos«. Drei Routen in den Alpen haben es in die Liste der Epic Rides der International Mountainbiking Association geschafft. Der Trail hier – durch das Landwassertal – ist einer von ihnen. Und ich will ihn unbedingt ausprobieren.
Ob episch mit Gleitschirm oder sportlich zu Fuß: die Berge um Davos bieten tiefe und weite Blicke.
Alles kann – nichts muss
Aber nicht jetzt. Jetzt plätschern die kleinen Seewellen so beruhigend an mein SUP Board und die Sonne wärmt so angenehm. Wollte ich nicht heute noch mit der Stand seilbahn zur Schatzalp hoch? Eine Trailrunning-Runde auf dem Panoramaweg drehen? Auf dem Zauberberg ein wenig Sport treiben? Das Jugendstilhotel Schatzalp ist ein ehemaliges Sanatorium. Hier ließ sich Thomas Mann zum »Zauberberg« inspirieren. Wäre doch ein toller Ausgangs punkt für eine Running-Runde. Ach, morgen vielleicht. Die Segelboote ziehen gerade so malerisch ihre Bahnen.
In der Ferne das Jauchzen der Jungs von der Wakeboard-Liftanlage. Ich bin heute lieber faul. Oder nein: ich mache Achtsamkeits-Meditation. Klingt besser. In jedem Fall blei be ich heute lieber unten. Da ist es in Davos genauso schön wie oben.
Wer will noch mal?
In und um Davos Klosters gibt es Hunderte von Aktivitäten, die ausprobiert werden wollen. Zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Ein einmaliges Gästeprogramm wartet auf Reisende, die in der Region übernachten: Sie haben – zwischen Mai und Oktober – die Möglichkeit, an über 70 kostenlosen Aktivitäten (insgesamt 800 Erlebnisse den ganzen Sommer hindurch) teilzunehmen. Die Infos dazu findet man unter: www.davos.ch/active