Neulich am Polarkreis

Auf diese Idee muss man erstmal kommen. Ende Mai soweit Richtung Nord-Norwegen fahren, bis 24 Stunden die Sonne scheint. Um dann, um Mitternacht, auf Ski von einem Berg zu fahren.

Michael Neumann

Ein Foto ist schuld. Gesehen von Max, Julian und mir in einem Bildband übers Skifahren, der durchexerziert, wie und wo man zwölf Monate im Jahr Ski fahren kann. Darin ein Bild aus Norwegen. Darauf ein Skifahrer, der über eine Wechte in den Sonnenuntergang springt. Dazu eine Zeitangabe. 3. Juni, 24 Uhr. Und auch wenn die Erklärung banal ist – na logisch scheint in Nord-Norwegen ab Ende Mai 24 Stunden lang die Sonne –, so ließ uns der Gedanke, einmal selbst um Mitternacht ohne Stirnlampe Ski zu fahren, nicht mehr los. Es folgt die klassische Machbarkeitsstudie. Resturlaub? Vorhanden. Expeditionsklausel in der Beziehung? Check! Motivation? Unendlich. High five!

Da wir sichergehen wollen, dass die Sonne auch wirklich scheint, fixieren wir ein drei- wöchiges Zeitfenster, um etwaigen Schietwetter ein Schnippchen schlagen zu können. Das wiederum macht einen Flug gen Norden a) zu teuer, da der »Frühbucherrabatt« wegfällt, und b) unplanbar, denn die Inlandsflüge in Norwegen sind oft lange im Voraus ausgebucht, so dass man nicht auf einen Standby-Platz hoffen kann.


Dann doch lieber mit dem Auto. Doch mit welchem? Da wir kein eigenes besitzen, das es überhaupt zuverlässig von München bis über die Donau schafft, sprechen wir mit der Idee unserer Polarkereis-Reportage bei BMW vor. Und tatsächlich, der Daumen geht hoch.
Bleibt noch die Frage, welcher BMW? So, wie wir sonst akribisch abwägen, welche Alumini-umlegierung für unsere Zeltstangen die stabilste ist und welcher Kocher bei Minusgraden am schnellsten einen Liter Schnee schmilzt, betrachten wir diesmal auch das Auto als integralen Bestandteil der perfekten Ausrüstung.

Mitsommer, here we come

Das Anforderungsprofil lautet: nicht zu groß, wenig Verbrauch und ein intelligenter Allrad- antrieb für alle Fälle – schließlich ist in Nor-wegen nicht jede Straße geteert, Schnee auch im Sommer möglich und die kurvigen Berg-straßen locken mit viel Fahrspaß. Dazu vielleicht noch ein paar Assistenzsysteme, welche die Fahrt sicherer und komfortabler machen? Unterm Strich steht am Ende ein BMW X1 mit dem Allradantrieb xDrive, den wir, nachdem der Wetterbericht und unser Karma in Einklang stehen, reservieren.

Michael Neumann

Los geht es final am 26. Mai. Und zwar recht ernüchternd. Obwohl wir natürlich schon eine leise Ahnung hatten, wie weit es ist, hat sich im Vorfeld niemand die Mühe gemacht, die exakte Distanz auszurechnen. Die spuckt nun das Navi aus. Zwischen uns und Enga, dem südlichsten Ort Norwegens, ab dem in vier Tagen 24 Stunden lang die Sonne scheint, liegen genau 2970 Kilometer. Upps! Und das ist die schnellste Route via Schweden. Da wir aber was von Süd-Norwegen sehen wollen, sind es sogar noch ein paar Kilometer mehr. Etwas »entschärft« wird die Gesamtstrecke wiederum von der Fährpassage, die uns von der Nordspitze Dänemarks bis nach Bergen bringen soll, mitten hinein in die weltbe- rühmten Fjordlandschaften. Im Schlaf sparen wir so etwa 700 Kilometer.

Wir nehmen mit: 3 x Ski, 3 x Wanderschuhe, 3 x Badehose, 1 x Longboard, 1 x SUP und 1 x BMW xDrive.

Die Fahrt bis Hirtshals vergeht ohne Probleme. Wir durchmessen nahezu die gesamte Republik auf A9 und A7 ohne einen einzigen Stau. Selbst durch den Elbtunnel rollt der Verkehr geschmeidig. Für die Gesamtstrecke vermeldet das Navi eine Verzögerung durch Verkehrsbehinderungen von ganzen 14 Minuten. Hat man Töne? Die Zeit vertreiben wir uns mit dem Studieren eines Skitourenführers und dem Zählen von Windrädern. Und Fahren natürlich, doch da hilft das Auto gehörig mit. Im Head-up-Display spiegelt sich nicht nur die aktuelle Geschwindigkeit, sondern auch das von einer Verkehrsschilderkennung exakt erfasste jeweilige Tempolimit. Der Tempomat, einmal eingestellt auf eine Wunschgeschwindigkeit bis 140 Stundenkilometer, bremst und beschleunigt selbstständig, wenn ihm andere Fahrzeuge in die Quere kommen. Und hätten wir einen Stau, würde der X1 sogar beim Lenken helfen.

Küstenlinie vs Luftlinie

In Hirtshals angekommen, rollen wir gegen 19 Uhr auf die Fjord-Line-Fähre gen Bergen. Da durch den Verzicht auf drei Linienflüge ein gewisser Überschuss in der Reisekasse war, haben wir diesen in ein Upgrade der Fährpassage investiert. Statt Schlafsessel gibt es eine Suite mit Himmelbett, drei verschieden weichen Kopfkissen und verglastem Erker. De luxe. Es ist allerdings auch die einzige Nacht auf unserer Reise, die wir in einem richtigen Bett verbringen werden.

Pünktlich und perfekt ausgeschlafen erreichen wir am nächsten Tag um 13 Uhr Bergen. Die Sonne scheint, keine Wolke weit und breit.
Und der Wetterbericht vermeldet, dass sich das die nächste Woche auch nicht ändern soll. Kann uns mal bitte einer kneifen?
Erstes Tagesziel auf unserem Weg gen Polarkreis, so der Bierdeckel-Plan, soll die Trollstigen-Region sein. Eine Hochebene mit guten Skitourenmöglichkeiten, von der eine fantastische Passstraße hinab zum Meer führt. Leider haben wir die Rechnung ohne die Küstenlinie Norwegens gemacht. Luftlinie sind es zwar nur etwa 250 Kilometer, doch die Fahrstrecke summiert sich durchs Ausfahren der Fjorde auf mehr als das Doppelte.

Michael Neumann

So lassen wir es dann gegen 23 Uhr am Geirangerfjord gut sein. Hoch oben über dem gleichnamigen Ort rollen wir unsere Iso-matten auf einer Felsplatte mit fantastischem Blick auf die umliegenden Berge aus. Hier »unten« in Süd-Norwegen gehen sich immerhin noch zwei, drei Stunden Dämmerung rund um Mitternacht aus, die es zu nutzen gilt. Gute Nacht!
Weiter geht die wilde Fahrt. Draußen im Geirangerfjord liegt die Queen Victoria, deren 2000 Passagiere sich gerade anschicken, per Beiboot zum Landgang auszurücken. Schnell noch einen Cappuccino im Straßencafé und weiter Richtung Valldal.

Plombenzieherschnee

Bevor wir schließlich den Trollstigen erreichen, haben wir noch eine Verabredung mit Knut. Knut hat vor fünf Jahren ein Hotel direkt in einer Flusskurve der Valldalselva errichtet. Das Sehenswerte daran: Man sieht es kaum. Knut hat rund um ein saniertes Farmhaus futuristische Wohnkisten mit bodentiefer Verglasung so geschickt im Wald platziert, dass man sie erst mal suchen muss. Das Hotel, Juvet genannt, war sogar schon Kulisse für den Hollywood-Blockbuster »Ex Machina«.

Auf dem Weg gen Norden begeistern wir uns nicht nur an der Natur, auch die neue Architektur Skandinaviens hat es uns angetan.

Entsprechend beliebt ist es bei Hotelfans in aller Welt. So hat Knut denn auch keine guten Nachrichten bezüglich einer Übernachtung, auf die wir insgeheim spekuliert hatten. Bis Ende Oktober seien sie ausgebucht, wir könnten uns aber gern in die Warteliste für 2017 eintragen. Unsere langen Gesichter hellen sich sogleich wieder auf, als er vermeldet, dass heute um 13 Uhr die Passstraße am Trollstigen öffnet – nach sechs-monatiger Winterpause. Als wir heute Morgen ins Tal gerollt sind, war Åndalsnes, das Städtchen hinter dem Trollstigen, noch durchgestrichen.

Uns schwante Ungemach. Ein geschlossener Pass hätte rund drei Stunden Umweg auf dem Weg gen Norden bedeutet. Laut Knut wartete man bis heute, dass sich ein mit Schnee gefüllter Hang oberhalb der Straße als Lawine entlädt, die Straße selbst sei bereits seit vier Wochen schneefrei. Was die Offiziellen geritten hat, die Straße nun doch zu öffnen, obwohl die Lawine nach wie vor lauert, ist ihm selbst schleierhaft.

Wir freuen uns ohne Vorbehalte und investieren die gewonnene Zeit in eine kleine Skitour oben am Pass. Von einer Parkbucht geht es auf einer mächtigen Altschneedecke bis auf den 1786 Meter hohen Finnan. Und wieder runter. Leider erwischen wir eine Ostseite, die kurz vor Mitternacht rasch von schönem, weichem Sulz zu bockhart gefroren wechselt, so dass es uns bei der Abfahrt fast die Plomben raushaut. Die Abfahrt im Anschluss macht dagegen wieder Spaß. Den Trollstigen runter. Und wieder hoch. Und runter. Mit xDrive. Fürs Foto. Alle wollen ans Lenkrad, keiner hinter die Kamera. Da hilft nur Stöckchen ziehen.

Ziel der zweiten Übernachtung in Norwegen ist die »Tverrfjellhytta«, ein schicker Aussichtswürfel im Dovrefjell-Nationalpark, entworfen vom preisgekrönten Architekturbüro Snøhetta. Die Hütte ist eigentlich nicht zum Übernachten gedacht, doch eine mehrstündige Rast zum Zwecke einer mehrstündigen Zeitrafferaufnahme wird doch wohl erlaubt sein. Als wir dort nach 20 Minuten Fußmarsch vom Parkplatz um zwei Uhr in der Früh ankommen, finden wir die Tür jedoch verschlossen vor. Wohl noch Winterpause. Statt einer Nacht im Schatten und ohne Wind gibt es also wieder die Landstreichervariante unter freiem Himmel.

Tag 3 in Norwegen steht unter dem Motto »Strecke machen«. Zwischen Enga, wo wir heute Nacht ankommen wollen, und dem Dovrefjell liegen 750 Straßen- und Fährkilometer. Viel Zeit für ein gutes Hörbuch und einige »Pølser« – so heißen die Würstchen, die es hier an jeder Tankstelle gibt.
Leider endet unser kühner Plan einige Kilometer vor Enga, denn die Fähre dorthin verkehrt nur zwei Mal am Tag – und wir hätten nicht mal die dritte Verbindung geschafft. Da das Wetter hier oben im Norden ähnlich phänomenal ist wie im Süden – seit 36 Stunden ist keine Wolke zu sehen – haben wir keine Mühe, einen erneuten Traumplatz für die Nacht zu finden: auf einer Granitkuppe mit Blick auf die wild zerklüftete Insel Traena nicken wir schließlich ein.
Am nächsten Morgen erwischen wir zwar Fähre Nr. 1, doch Nr. 2, mit der wir den Polarkreis überqueren werden, verkehrt noch nicht im Sommerfahrplan. Erst um 14 Uhr geht es weiter. Noch mal Zeit für ein Nickerchen und eine Runde auf dem Stand-up-Board durch die Bucht. Stellenweise schimmert das Wasser türkisklar. Dazu der stahlblaue Himmel samt 23 Grad und die Karibik-Illusion ist perfekt.

Ich weiß, das mit dem Kneifen hatten wir schon, doch – autsch! – sicher ist sicher … Der permanente Sonnenschein und die stete Helligkeit haben unseren Schlafrhythmus mittlerweile völlig durcheinandergebracht. Wir leben nicht mehr nach der Uhr, sondern nach Lust und Laune. Durch die erhöhte Serotonin-Ausschüttung sind wir auch weniger müde, oft reicht ein »Powernap« zum Aufladen der Batterien. So kommen wir letztlich auf 20 Stunden Aktivität pro Tag, was natürlich auch die Ausbeute an Touren erhöht. Bevor wir jetzt zur finalen Skitour aufbrechen, bei der wir ein Stück weit das Lyngen-Bild aus dem Bildband fürs private Fotoalbum nachstellen wollen, klemmen wir noch eine See- kajaktour dazwischen. Beim örtlichen Anbieter für Aktivtouren bauen wir die Dachbox runter und laden drei Seekajaks auf. Ziel sind die Schären hinter der Insel Bolga. Um 20 Uhr legen wir am Campingplatz von Åmnøya ab. Die flache Sonne, auf die wir direkt zupaddeln, verleiht der 10-Kilometer-Querung übers offene Meer etwas Surreales. Ohne direkte Landmarken, die dem Auge Halt geben und an denen wir die Geschwindigkeit abschätzen können, kommt es uns vor, als würden die Kajaks durch ein Meer aus zähem Orangensaft fliegen, angezogen von der Mittsommernachtssonne.

Robinson für eine Nacht

Gegen 22 Uhr betreten wir eine 200-Quadratmeter-Insel, deren höchster Punkt etwa zehn Meter über dem Wasser liegt. Unser Zuhause für die nächsten zwölf Stunden. Schnell steht das Zelt, das uns Schatten beim Schlafen spenden soll, dann stromern wir über das kleine Eiland. Zeit genug ist, denn da wir im Eifer des Packgefechts ein Feuerzeug vergessen haben, bleibt die Küche kalt und wir müssen unsere Fischfrikadellen leider im Sushi-Stil essen.

Gegen 1.30 Uhr geht die Sonne heute ein letztes Mal »unter«, um um exakt 1.34 Uhr wieder aufzugehen. Mittlerweile sind wir den Schlaf im Hellen aber gewöhnt und setzen nicht mal mehr unsere Schlafbrillen auf. Die 20 Zentimeter dicke Moosschicht unter unseren Isomatten tut ein Übriges, dass wir einmal mehr schlafen wie die Babys.

Nach unserer Rückkehr an den Strand von Åmnøya und dem nachgeholten Abendessen rüsten wir zum Gipfelsturm. Heute soll unser Mittsommernachts-Skibild entstehen. Praktischerweise konnten wir auf unserer gestrigen Insel gut sehen, welcher Gipfel nachts die ganze Zeit Sonne hat. Die höheren in zweiter Reihe haben zwar mehr Schnee, doch die Exposition zur Sonne stimmt nicht. Daher nehmen wir einfach den Berg gleich hier hinterm Strand. In seiner Gipfelmulde erhoffen wir uns noch ausreichend Schnee für einen Foto-Schwung.


Über einen Granitbuckel geht es am anderen Ende der Insel gemächlich in die Höhe. Oben angekommen, meldet meine GPS-Uhr knappe 800 Höhenmeter. Erstmals können wir auch den kleinen Kessel auf dem Gipfelplateau beurteilen. Nicht gerade viel Schnee, doch ausreichend für unsere Mission. Und so ziehen dann alle ihren »Poserschwung«, der uns so weit in den Norden geführt hat, vor die Kamera. Leider verschwindet die Sonne, noch bevor der Schwung perfekt sitzt, hinter einer Nebelbank am Horizont. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau.

So klettern wir zurück auf den Gipfel und machen Biwak. Die »Nacht« könnte schöner nicht sein. Aus dem Schlafsack blicken wir auf zig Inseln und den Svartisen-Gletscher. In der Ferne ziehen Schiffe vorbei. Kein Zivilisationsgeräusch ist zu hören. Nur ein einsamer Kuckuck kuckuckt beständig vor sich hin. Machen wir ein Geräusch, antwortet er. Minuten- lang. Sagen wir halt nichts mehr. Bis Max anfängt zu schnarchen. Kuckuck, Kuckuck … Die ständige Helligkeit scheint dem Vogel nicht zu bekommen. Doch irgendwann siegt auch meine Müdigkeit über das stete Gezwitscher. Erst am nächsten Morgen beim Abstieg hören wir ihn wieder. Er »bekuckuckt« jetzt einen bellenden Hund auf einem nahen Gehöft. Der scheint ähnlich ausdauernd wie Max. Und die Rückfahrt? Die war auch gut, aber das ist eine andere Geschichte.

Michael Neumann


Text: Georg Rathfelder