Gefangen im Schneesturm

Ruth Zeller
Vier Freundinnen planen eine Skidurchquerung im Norden Kanadas. Mitten im größten nicht polaren Gletschergebiet der Welt erwischt sie einer der schwersten Stürme der Saison.

Eine hauchdünne Schicht Eis bedeckt Ullas Gesicht. An den Wimpern haben sich Klumpen aus Schnee festgefroren. Ich stehe ihr gegenüber. Das Licht meiner Stirnlampe durchbricht die Dunkelheit. Wind peitscht mir ins Gesicht. Mein Körper zittert, meine Hände, eingepackt in Expeditionshandschuhe, schmerzen. Vor Kälte, vor Anstrengung. Wir stemmen uns gegen die Windböen und halten unser zerbrochenes, im Sturm tobendes Zelt fest.

Wie anders hatte der Tag begonnen: »This will be your lucky day«, sagt unser Pilo­­t Mike Butler noch, als er mit der einmoto­­rigen Cessna im Kluane National Park im Yukon-­Territorium zur Landung ansetzt. Mit drei Freundinnen stehe ich knietief im Schnee des größten nicht polaren Gletschergebiets der Welt. Blauer Himmel, eiskalte Luft. Die Temperatur liegt bei minus 20 Grad Celsius. Nebe­­n uns vier vollge­packte Dufflebags, Schlitten, unzählig­­e Liter Benzin, Essen und unsere Ski. Vor uns: unberührte Weite, schneebedeckte Berge, imposante Gletscher und vollkommene Einsamkeit.

»Total surreal, oder?« Ulla strahlt. Ich bin glücklich. Monatelang haben wir geplant und uns auf eine zweiwöchige Skidurch­querung vorbereitet, die uns zu einem abenteuer­lichen, einsamen Ort führen sollte. Einem Ort, den ich nur von Fotos richtiger Bergsteiger und Abenteurer kannte. Obwohl der Norden Kanadas an der Grenze zu Alaska von starken Stürmen und zweistelligen Minustempe­raturen geprägt ist, mache ich mir keine Sorgen. Ein kleiner Sturm soll in den nächsten Tagen kommen. Halb so wild, denke ich, als sich beim Losgehen die Wolken verdichten.

»Reale und irreale Ängste vermischen sich. Wenn das zweite Zelt nicht standhält, werden wir erfrieren.«

Keine zwölf Stunden nach der Landung liegt Ulla zitternd neben mir im Zelt. Tränen der Angst laufen über mein Gesicht. Wind mit über 140 Stundenkilometer reißt an den Zeltwänden. Sie flattern heftig – als würden sie jede Sekunde zerreißen. Es ist einer der schlimmsten und stärksten Stürme der Saison. Um kurz nach Mitternacht gibt das Aluge­stänge schließlich nach und zerbricht. Panisch greif­e ich nach Daunenjacke und Stirnlampe und krieche aus dem zusammengebrochenen Zelt. Schnee und Wind schlagen mir mit voller Wucht entgegen. Aussichtslos versuchen Ulla und ich die Wände aufzurichten. Windböen zwingen mich in die Knie. Wir schreien um Hilfe. Als die anderen beiden zu uns eilen, können wir die Schlafsäcke herausziehen. Wir zwängen uns zu viert in ihr Zelt. Minuten und Stunden vergehen schweigend. Immer wieder falle ich in einen unruhigen Halbschlaf, bis das Flattern der Zeltwände mich aufschrecken lässt. Als Unerfahrenste der Gruppe kann ich die Situatio­­n schwer einschätzen. Reale und irreale Ängste vermischen sich. Wenn auch das zweite Zelt dem Sturm nicht standhält, werden wir erfrieren. Auch das ständige Donner­­n macht mir Sorgen. Abgehende Lawine­­n könnten uns hier begraben – und niemand würde zur Hilfe kommen.

Tag und Nacht schaufeln

Am nächsten Tag können wir das Zelt reparieren. Doch der Sturm wird stärker und bringt Neuschnee. So verbringen wir auch die folgenden zwei Tage und Nächte im Zelt. Wir essen kaum, dösen ein und schrecken auf, wenn die Sturmböen gegen die Wände schlagen. Fast stündlich muss einer von uns raus, um das Zelt von den Schneemassen zu befreien. Wir schaufeln und schaufeln. Am Tag wie in der Nacht.

Nach der dritten Nacht herrscht Stille. Der Sturm ist vorübergezogen. Blauer Himmel, klare Sicht und eine unfassbare, unberührte Weite. Wir setzen unsere Skidurchquerung fort. Doch meine Begeisterung ist verschwunden. Ich erfreue mich nicht an der Aussicht, nicht an der Einsamkeit. Statt­dessen hat mich die reale Härte des Abenteuers eingeholt.

Wir gehen noch einige Tage weiter, durchqueren riesige Gletscherspaltenzonen, bauen unsere Zelte auf und ab. Be- und entpacken unsere Pulkas und ziehen los. Reden nicht mehr viel, streiten zwischendurch. Der Sturm hat bei uns allen Spuren hinterlassen. Je unbeständiger die Wettervorhersage wird, desto unruhiger werde ich. Ich möchte vor dem nächsten Sturm raus. Wir diskutieren und checken immer wieder die Vorhersage. Schließlich entscheiden wir uns nach knapp einer Woche zum Abbruch. Beim nächsten Wetterfenster lassen wir uns ausfliegen.

Im Nachhinein schaue ich mir Bilder von vier strahlenden Frauen und blauem Himmel an. Fotos von den Sturmtagen haben wir kaum. War doch gar nicht so schlimm – ein Sturm halt. Der Abstand relativiert. Die Schattenseiten verblassen wie der Kater eine­­r Partynacht. Wir vergessen, wie schlecht wir uns gefühlt haben, wie sehr wir gelitten haben. Stattdessen freuen wir uns auf das nächste Abenteuer.

RABEA ZÜHLKE

Alter: 30 // Heimat: Gaißlach // Ausbildung: Master of Arts, Deutsche Journalistenschule // Beruf: Freie Journalistin // Web: www.rabeazuehlke.com // Instagram: @rabea_z

Ob im Himalaja, im Wilden Kaiser oder in den (nun) heimischen Voralpen: So oft es geht, zieht es die studierte Journalistin Rabea in die Berge. Am liebsten zusammen mit ihrer Seil- und Zeltpartnerin Ulla, mit der sie bereits auf über 6000 Metern im Himalaja zeltete, auf unzähligen Ski- oder Klettertouren war und noch viele neue Abenteuer geplant hat.


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Text: Rabea Zühlke
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