Tschechien: Auf der wilden Seite

Der tschechische Teil des Erzgebirges ist größer, wilder und besonders für Liebhaber von mystische­­n Orten, verwunschenen Wäldern und Bergbaugeschichte eine Entdeckung wert.

Magda Lehnert

Nebel zieht durch die dunklen Wälder und feiner Nieselregen legt sich wie ein Schleier auf das rot und gelb leuchtende Laub. In Momenten wie diesen ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie es einst im Miri­quidi silva, dem Finsterwald des Erz­gebirges, ausgesehen haben muss, bevor die Menschen die Schätze unter dem Berg entdeckte­­n und der Wald einer neuen Zivilisation weichen musste. Noch immer prägt Wald das Gebirge auf deutscher und besonders auf tschechischer Seite – und wird für einen jeden, der sich an rauer Wildheit erfreuen kann, zum Abenteuerspielplatz. Knapp 5000 Kilometer ausgewiesene Wanderwege, zwei internationale Fernwanderwege und eine Vielzahl an Mountainbike-Trails ziehen sich durch die Hügel- und Berglandschaft des Erzgebirges. An ihren Flanken findet man einige urige Hütten, in denen an kalten Tagen der Dampf deftiger Suppen und fettiger Klobásy hängt.

Neben der unberührten Natur selbst sind es die vielfältigen Montandenkmäler der 800-jährigen Bergbaugeschichte, die zu den spannendsten Ausflugszielen der Region zählen. Bereits im 12. Jahrhundert wurde rund um das heutige Freiberg erstmals Silbererz abgebaut, woraufhin dem ersten »Berg­geschrey« zahlreiche Bergleute, Händler und Köhler folgten. In Folge entwickelte sich das Erzgebirge in den kommenden Jahrhunderten zu einer der weltweit bedeutendsten Berg­bauregionen. Zeugnisse davon sind in jedem Winkel sichtbar: Wandert man etwa von Horní Blatn­á zum Aussichtsturm auf dem Plattenberg, wird man dabei kaum die beiden gewaltigen Schluchten übersehen können, die wie gigantische Risse 25 Meter tief im Fels klaffen. Entstanden sind die Wolfs- und Eispinge durch den Einsturz der darunter liegenden Stollen. Vollkommen von Wald und Sträuchern in Besitz genommen, stehen sie seit 1975 als Naturdenkmal unter Schutz und zählen seit 2019 auch zu den Bestand­teilen des UNESCO-Welterbes »Montan­region Erzgebirge/Krušnohoří«.

Doch nicht nur der Bergbau prägte die Geschicht­­e und die Landschaft des tschechischen Erzgebirges. Ein ganz besonderer Ort, an grauen Herbsttagen fast mystisch zu ­nennen, ist die Ruinenstadt Königsmühle. ­Gelegen in einem Vogelschutzgebiet und nicht mit dem Auto zu erreichen, zeichnen sich ihre sanften Hügel durch eine seltene Wildheit aus. Der Tatsache, dass keine Straßen in den Ort führen, ist es wahrscheinlich auch zu verdanken, dass die Ruinen überhaupt erhalten blieben. Denn wie an vielen Orten wurden auch hier in den 1940er-Jahren die Sudetendeutschen vertrieben und ihre Häuser niedergerissen. Heute wird dem ­kleinen Ruinendorf deshalb eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung der Geschichte ­zuteil. Dennoch ist es inzwischen weit mehr als ein historisches Denkmal. Im Rahme­­n des »Land-Art-Treffens« entstanden 2012 und 2013 in und um die Wohnhäuser und Mühlen etwa 20 Installationen, die einen bedeutenden Beitrag zur Wiederfindung der Identität des Orts leisten sollen. Einmal jährlich findet ­zudem ein Folkmusikfestival statt.

Im Kontrast zum sonst so urwüchsigen Geländ­­e findet sich in Jáchymov – ebenfalls Bestandteil des UNESCO-Welterbes – das ältest­­e Radonheilbad der Welt inklusive des obligatorischen Kurhotels. Mit dem etwas verblichenen Charme seines opulenten neoklassizistischen Baus könnte es auch ohne Weitere­­s als Kulisse für den nächsten Wes-Anderson-­Film dienen. Bis dies jedoch geschieht, wird man den Massen­tourismus im tschechischen Erzgebirge trotz der vielfältigen Wandermöglichkeiten, faszinierenden Ausflugsziele und urigen Restaurantkultur vergeblich suchen. Eher wird es einem hier passieren, dass man sich in alle Richtungen umsieht und nichts sehen wird, außer dem weiten, herbstlich bunt gefärbten (Finster)wald.


TSCHECHISCHES ERZGEBIRGE

Das Erzgebirge ist gut 150 km lang und 40 km breit und liegt genau auf der deutsch-tschechischen Grenze. Im tschechischen Teil warten zahlreiche Wander- und Radwege, Schlösser, Burgen, Bergwerke, gute Wintersportmöglichkeiten, »Lost Places« und mit dem Klínovec die höchste Erhebung des Mittelgebirges. Mehr Informationen per Telefon 030 204 4770, per Mail berlin@czechtourism.com oder www.visitczechrepublic.com