Winterflucht im Harz

Waschechte Winter existieren in Deutschland vielerorts nur noch in blassen Kindheitserinnerungen. Ralf Gantzhorn hat sich auf die Suche nach Schnee, Eis und Kälte begeben – und ist auf dem Harzer Hexenstieg fündig geworden.

Ralf Gantzhorn

Schlitten und Schlittschuhe rosten im Keller vor sich hin. Schneeschaufel und Streusalz stehen gelangweilt in der Ecke. Der Himmel grau, die Straßen matschig und die Ge­sichter lang – so sieht heute der Winter für die meisten Deutschen aus. »Wer Schnee und Kälte erleben will, muss heutzutage in die Alpen fahren!«, meinen viele. Doch stimmt das überhaupt? Oder gibt es vielleicht sogar in Norddeutsch­ land einen Ort, wo man noch echte Winter erleben kann? Gibt es! Denn ein kleines Mittelgebirge, ganz in der Nähe des geografischen Mittelpunkts der Republik, widersetzt sich den immer wärmer werdenden Wintern: der Harz. Aus Ham­burg, Dortmund, Berlin und Frankfurt in rund drei Stunden erreichbar, ragt dessen höchste Kuppe, der Brocken, 1142 Meter in den Himmel und weist mit einer Durchschnitts­ temperatur von 3,5 Grad – im Jahresdurchschnitt, wohl­ gemerkt! – fast arktische Bedingungen auf. Im Harz be­stimmen in der kalten Jahreszeit Schnee, Eis und Kälte das Gesamtbild. Grund genug für eine Winterflucht auf dem Fernwanderweg Harzer Hexenstieg …

Winter im Wasserregal

Kaum haben wir den Zug in Osterode verlassen, stehen wir im dichten Schneegestöber. Wir, das sind meine Freundin Susanne und ich, können es nicht fassen: Es gibt ihn also doch noch, den Winter in Norddeutschland. Voller Enthu­siasmus über die eisige Pracht schnallen wir uns die Schnee­ schuhe unter und stapfen los. Das erste Ziel auf unserem Weg quer durch den Harz: das Sperberhaier Dammhaus. Den Weg weist uns ein Schild mit einer kleinen grünen Hexe, das an allen wichtigen Wegpunkten angeschlagen ist. Aber warum eigentlich eine Hexe? Und warum heißt dieser Fern­wanderweg Hexenstieg? Die Antwort findet man in lang vergangenen Tagen: Im Volksglauben fanden, zum Beispiel zur Walpurgisnacht, große Hexen­ Versammlungen auf dem Brocken statt, der damals auch Blocksberg genannt wurde. Jetzt wissen wir also auch, woher eine aus Kinderbüchern und Hörspielen berühmte Nachwuchs­ Hexe ihren Namen hat …

Ralf Gantzhorn

Zauberhaft kommen uns dann auch die vielen tief ein­ geschneiten Gräben und Kanäle vor, neben denen wir wandern. Mal hangparallel, mal tief eingeschnitten und mal über dem Niveau der eigentlichen Topografie angelegt, sind sie offensichtlich nicht natürlichen Ursprungs. Des Rätsels Lösung erfahren wir am Dammhaus, das ursprünglich als Umkleide und Gebetshaus für die Bergarbeiter genutzt wurde: Sie sind Teil des Oberharzer Wasserregals, dem wichtigsten Wasserversorgungssystem der ehemaligen Erzgruben rund um die Berg­ werksstadt Clausthal-Zellerfeld. Unstillbar war der Wasserbedarf der Gruben, sodass selbst aus der über 30 Kilometer entfernten Brockenregion die Bäche angezapft wurden. Das Meisterstück innerhalb des Regals ist der Sperberhaier Damm, ein fast einen Kilometer langes Viadukt, das ab 1732 zwei Jahre lang mühselig von Hand aufgeschüttet wurde. Heute führt ein Abschnitt des Harzer Hexenstiegs direkt auf der Dammkrone ent­lang; für uns das mühseligste Stück Weg bisher, denn wir versinken bis zur Hüfte in einem Meter Neuschnee. Die Kinder einer anderen Wandergruppe freut’s: Sie jagen wie junge Hunde durch den tief ein­ geschneiten Märchenwald und spielen in den Massen von fluffigem Schnee.

Goethes Gipfelglück

Torfhaus ist der wohl bekannteste Ort im Harz. Schließlich war die Siedlung Start­punkt einer der prominentesten Winter­ begehungen des Brockens: Kein Geringerer als Geheimrat Johann Wolfgang Goethe (er war damals noch nicht geadelt) erklomm am 10. Dezember 1777 zusammen mit Förster Johann Christoph Degen den höchsten Punkt und notierte anschließend in seinem Tagebuch: »Heiterer, herrlicher Ausblick, die ganze Welt in Wolken und Nebel und oben alles heiter.« Eine Eintragung, die, wenn man die Besucherzahlen des Brockens zu­ grunde legt, vielleicht weit häufiger gelesen wird als der gesamte Rest von Goethes Werken. Schließlich besuchen über zwei Millionen Menschen pro Jahr den Gipfel. Ob diese jedoch oft einen ähnlich heiteren Blick genießen dürfen, ist fraglich: An 300 Tagen im Jahr ziehen dichte Wolken über die kahle Kuppe, an 190 bis 200 Tagen fällt Regen oder Schnee. Passender ist da vermutlich die Eintragung eines anderen deutschen Dichters in das Gästebuch der Brockenherberge: »Große Steine, müde Beine, saure Weine, Aussicht keine. Heinrich Heine.«

Durch das zähe Ringen mit Wind und Kälte hat sich ein Krüppelwald gebildet, der eher an die sibirische Taiga erinnert als an ein deutsches Mittelgebirge.

Als wir morgens in Torfhaus aufwachen, haben sich die Wolken verzogen, ein traum­ hafter Wintertag steht vor der Tür. Schritt um Schritt stapfen wir durch den winter­lichen Wald, jeder in der frostigen Luft kon­densierende Atemzug bringt uns dem ehe­maligen Abhörzentrum des Warschauer Pakts näher. Denn der Brocken, als höchster Berg weit und breit, war von überragender strategischer Bedeutung für die ehemalige DDR und ihre sowjetischen Verbündeten. Angeblich ließen sich von hier sämtliche Telefonate zwischen Paris und Moskau ab­hören. Dementsprechend war das Betreten des höchsten Gipfels Norddeutschlands zwischen 1961 und 1989 streng verboten – militärischer Sperrbezirk am heute meist­ besuchten Berg der Region.

Sehen, staunen, stapfen

Plötzlich durchbricht ein lautes Schnaufen und Rattern die frostige Ruhe. Ein dampfen­ des Ungetüm rollt direkt auf uns zu: die Brockenbahn, deren hübsche alte Dampflok eine große, orange angeleuchtete Wolke zurücklässt, die sich in den vereisten Spitzen des Waldes langsam auflöst. Die ursprünglich auch für den Güterverkehr verwendete Eisenbahnstrecke wird heute hauptsächlich touristisch genutzt und führt von Drei Annen Hohne hinauf auf den Brocken.

Wir wandern gemütlich weiter zum Gipfel und können uns an den Lichtreflexionen im Schnee und den mit weißem Zuckerguss überzogenen Bäumen nicht sattsehen. Mit über 1000 Meter Seehöhe befindet sich die Gipfelkuppe des Brockens oberhalb der Waldgrenze. Darunter hat sich im zähen Ringen mit Wind und Kälte ein Krüppelwald gebildet, der eher an die sibirische Taiga erinnert als an ein deutsches Mittelgebirge.
Im Winter, wenn sich die Bäume unter der Schnee­ und Eislast quälen, der Nebel ge­friert und alles von Raureif überzogen wird, verwandeln sich die Fichten in skurrile Märchengestalten. Dahinter reicht der Blick weit in die norddeutsche Tiefebene.

Ralf Gantzhorn

Wir verlassen den Brocken und wandern runter nach Schierke. Der Ort ist für uns das schönste Dorf im Harz. Zahlreiche pracht­volle Bauten aus der Blütezeit des Luft­kurortes um die Jahrhundertwende, das mächtige Rathaus und die Bergkirche sind schon alleine einen Besuch wert.

Ein kurzer Abstecher führt uns am nächsten Morgen hinauf zu den verwitterten Granit­klippen des Ahrensklint, den wir über eine Eisenleiter besteigen. Der Schnee knirscht unter unseren Sohlen, Morgennebel konden­siert im dichten Tannenwald. Es ist völlig still, während die Natur langsam erwacht. Ich schaue auf das Handy – kein Empfang. Was sonst ein Ärgernis ist, empfinde ich hier als Luxus. Der Harz macht es einem leicht, den Rest der Welt hinter sich zu lassen.

Die letzte Etappe unseres insgesamt rund 95 Kilometer langen Weges führt uns von Altenbrak hinunter nach Thale. Hier be­finden wir uns im Wind­ und Regenschatten des Brockens. Viel weniger Schnee als in den Tagen zuvor bedeckt die Hänge des Bodetals, durch das wir jetzt wandern.

Echte Winter gibt es noch!

Doch hier, kurz vorm Ziel, im »Grand Canyon« des Harzes, wie manche Lokal­patrioten die Gegend in enthusiastischer Übertreibung nennen, zieht die Natur noch einmal alle Register, um den mittlerweile müden Wanderer zu beeindrucken: senk­rechte Felswände, seltsam gekrümmte Wur­zeln, der gurgelnde und überschäumende Fluss, und immer wieder gigantische Eis­ zapfen, die bedrohlich über dem Weg hängen. Diese Märchenlandschaft lässt uns erneut an jeder Wegbiegung unsere schlappen Beine vergessen. Doch diese Ansichten stellen auch den letzten Gruß des Winters dar, den wir, in Thale angekommen, genauso hinter uns lassen wie den Harz. Alles ist wieder Grau in Grau, das Winter­märchen Harzer Hexenstieg hat ein Ende und das Schmuddelwetter unserer Heimat­stadt Hamburg wird uns bald wieder zurück­ haben. Doch uns beruhigt die gewonnene Gewissheit: Den echten Winter gibt es noch – und er ist näher als gedacht.

Ralf Gantzhorn


Text: Ralf Gantzhorn